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Logo vom Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit und Site-Slogan: Aktiv für Gesundheit und Chancengleichheit (Link zur Startseite)

Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit

Gesundheitliche Chancengleichheit in Deutschland verbessern und die Gesundheitsförderung bei sozial benachteiligten Gruppen unterstützen - das sind die Leitziele des bundesweiten Kooperationsverbundes. Dem von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) initiierten Verbund gehören 75 Organisationen an. Der Verbund fördert vorrangig die Qualitätsentwicklung in der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung und die ressortübergreifende Zusammenarbeit. Die zentrale Aktivität der Koordinierungsstellen in den Bundesländern ist die Begleitung kommunaler Prozesse, insbesondere über den Partnerprozess "Gesundheit für alle".

Wer durch Ar­mut oder an­de­re schwierige Lebens­um­stän­de benachteiligt ist, hat in Deutsch­land ein dop­pelt so hohes Erkrankungs­risiko und ei­ne um bis zu zehn Jahre geringere Lebens­erwartung als Men­schen aus bes­ser gestellten Bevölkerungs­schichten. Ins­be­son­de­re so­zi­al benach­teiligte Kinder und Jugend­liche sind stärkeren gesund­heitlichen Be­lastungen aus­ge­setzt, wie der Kinder- und Jugend­gesundheits­survey (KiGGS) be­legt. Die schicht­abhängigen Unter­schiede be­tref­fen nach­weislich den Gesundheits­zustand, das Ge­sund­heits­ver­hal­ten und die In­an­spruch­nah­me von Vorsorge­untersuchungen.

Hintergründe, Daten und Materialien

Der Kooperationsverbund und seine Aktivitäten. Ein Selbstdarstellungsvideo von 2012, 11:30 Minuten lang

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Artikel

30.01.2015

Steigende Mieten und Yogakurs statt Sozialberatung

Gentrifizierung als gesundheitlicher Risikofaktor sozial benachteiligter Älterer

Birgit Wolter, Institut für Gerontologische Forschung e.V.

Schlagwörter:Kommunen, Sozialraum, Teilhabe, Ältere

Während zahlreiche Kom­mu­nen un­ter dem Rück­gang ih­rer Be­völ­ke­rung leiden, verzeichnen ins­be­son­de­re Universitäts- und Großstädte in Deutsch­land einen Be­völ­ke­rungszuwachs. Urbanes Wohnen gewinnt zunehmend an Be­deu­tung, nachgefragt wer­den vor allem Alt­bau­woh­nung­en in sanierten Innenstadtlagen (Adam & Sturm 2014). Eine hohe Nach­fra­ge nach Woh­nung­en in bestimmten Stadtteilen hat zur Fol­ge, dass Mie­ten und Immobilienpreise stei­gen und da­mit für einkommensschwache Be­völ­ke­rungsgruppen nicht mehr bezahlbar sind. Einkommensstarke Be­völ­ke­rungsgruppen zie­hen zu und ein Pro­zess der Gentrifizierung beginnt, d. h. ein „Aus­tausch von statusniedrigen durch statushöhere Be­völ­ke­rungsgruppen“ (Holm 2014: 277). Diese Ent­wick­lung belastet ins­be­son­de­re die langjährige Be­woh­ner­schaft, die sich - häufig im Be­sitz von günstigen Mietverträgen - einem wachsenden Verdrängungsdruck ausgesetzt sieht.  
Im Zuge der Auf­wer­tung von Quar­tieren er­le­ben öko­no­misch schwache Menschen häufig zu­nächst ih­re soziale und räumliche Aus­gren­zung, et­wa weil die soziale Teil­ha­be oder die Versorgung mit Alltagsgütern im Quar­tier nicht mehr oder nur noch eingeschränkt mög­lich sind. Der Fortzug aus dem Quar­tier führt dann im Allgemeinen in weniger nachgefragte (und attraktive) Wohn­la­gen, z. B. an den Stadtrand oder in unsanierte Wohngebiete. Al­te Menschen wer­den durch den Pro­zess der Gentrifizierung zu­sätz­lich stark belastet, weil sie über­wie­gend in der vertrauten Woh­nung und Um­ge­bung alt wer­den möchten (zum Kon­zept des „Ageing in place“ vgl. Rowles & Ravdal 2002).

Warum sind Exklusion und Gentrifizierung gesundheitliche Risikofaktoren für sozial benachteiligte Ältere?

Mit zunehmendem Al­ter be­ein­flus­sen die Ge­ge­ben­heit­en in der Wohnumwelt die Voraussetzungen für gesundes, autonomes Al­tern in wachsendem Maße. Die World Health Or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) verweist in ih­rem Pro­gramm der „Agefriendly Cities“ auf die Be­deu­tung von altersfreundlichen Lebenswelten und Städten für Ge­sund­heit und Teil­ha­be alter Menschen. Dabei sind ge­ra­de alte Menschen mit geringen Res­sour­cen (kör­per­lich/ge­sund­heit­lich, öko­no­misch, so­zi­al) be­son­ders stark auf ei­ne unterstützende räumliche und so­zi­ale Um­welt an­ge­wie­sen.
Die Auf­wer­tung ei­ner Wohngegend führt meist da­zu, dass sich die Angebotslandschaft und In­fra­struk­tur auf die Ansprüche der öko­no­misch stärkeren Ziel­grup­pen einstellt. Al­te Menschen mit geringem Haushaltseinkommen kön­nen ih­re Alltagsbedürfnisse und Wünsche nach Teil­ha­be im Quar­tier nur noch eingeschränkt er­fül­len. Der Zu­gang zu Hilfe- oder Präventionsangeboten wird durch den Weg­fall vertrauter Strukturen und Personen häufig zu­sätz­lich erschwert. Das Be­dürf­nis, an­de­re Menschen in ähnlichen Le­bens­la­gen oder mit ähnlichen Lebensstilen in der Nä­he zu haben („desire for sameness“), kann im­mer we­niger befriedigt wer­den (Phillipson 2010: 600 ff.).
Der Verlust so­zi­aler Netzwerke, identitätsstiftender Beziehungen und hilfreicher An­ge­bo­te (Yogakurs statt Sozialberatung) trifft so­zi­al benachteiligte alte Menschen um­so mehr, da sie we­nige Res­sour­cen be­sit­zen, um auf diese Ent­wick­lung­en zu re­a­gie­ren. Soziale Un­gleich­heit und Aus­gren­zung wer­den da­durch verstärkt. Eine unsichere Wohnsituation bzw. die Sor­ge vor Miet­er­hö­hung­en stel­len zu­dem ei­ne hohe psy­chische Be­las­tung dar. Gleichzeitig sind die Mög­lich­keit­en von älteren Menschen mit geringem Einkommen, ei­ne an­de­re, bes­ten­falls altersgerechte Woh­nung auf dem frei­en Woh­nungs­markt zu fin­den, stark eingeschränkt.
Sowohl der Verbleib in ei­nem sich sol­cher­art verändernden Quar­tier als auch der Um­zug in ei­ne neue Wohnumgebung birgt erhebliche ge­sund­heit­liche Risikofaktoren für vulnerable Ziel­grup­pen. Der Verlust so­zi­aler Kontakte kann zu Iso­la­ti­on, Rückzug und Ein­sam­keit füh­ren. Ein Um­zug im Al­ter kann, vor allem wenn er un­ge­wollt erfolgt, zu­dem ein kritisches Lebensereignis dar­stel­len, das phy­sisch und psy­chisch be­las­tend wirkt. Die Aus­wir­kung­en von städtebaulicher Auf­wer­tung und Gentrifizierung auf die Ge­sund­heit und Teil­ha­bechancen alter Menschen sind bislang nur we­nig sys­te­ma­tisch untersucht. Die bekannten Zusammenhänge zwi­schen ei­ner förderlichen Wohnumwelt und gesundem Al­tern be­grün­den aber be­reits jetzt die For­de­rung, die Fol­gen von Auf­wer­tungsprozessen durch präventive Stra­te­gien zu mil­dern.

Sozialraumorientierte Wohnumfeldanpassung als Stra­te­gie

Die Auf­wer­tung ei­nes Quartiers sollte mit Au­gen­maß er­fol­gen, d. h. räumliche und soziale Barrieren sollten abgebaut, An­ge­bo­te den Bedarfen an­ge­passt und die Bausubstanz erneuert wer­den. Dabei sollten aber die beste­henden Erfordernisse des Quartiers und der Be­woh­ner­schaft, be­son­ders derjenigen, die auf ein unterstützendes Wohnumfeld an­ge­wie­sen sind, im Zen­trum ste­hen. Der Kom­mu­ne kommt bei diesen städtebaulichen Entwicklungsprozessen ei­ne Steuerungsrolle zu. Eine enge Zu­sam­men­ar­beit von Stadtentwicklung, Gesundheits- und Sozialverwaltung ist ei­ne Voraussetzung, um so­wohl die planerischen als auch die sozialen und gesundheitsförderlichen Belange zu­kunfts­ori­en­tiert, z. B. in ei­nem quartiersbezogenen Leit­bild, zu be­rück­sich­ti­gen.

  • Stra­te­gie „Par­ti­zi­pa­ti­on und sozialraumbezogene Bedarfsermittlung“
    Bedarfe und Defizite müs­sen vor Ort erhoben wer­den und die Be­woh­ner­schaft an den Aufwertungsprozessen aktiv beteiligt wer­den. Die entsprechenden Beteiligungsinstrumente, wie Zukunftswerkstätten, Bewohnergremien oder Stadtteilkonferenzen sind be­kannt und er­probt. Damit im Sinne der Partizipationsstufen (Unger & Wright 2007) ei­ne tatsächliche Beteiligung der Be­völ­ke­rung erfolgt, sollten ei­ne einfache Spra­che (Tipps zu leichter Spra­che) verwendet, transparente Strukturen geschaffen und wichtige Multiplikatorinnen und Multiplikatoren eingebunden wer­den. Ein Bei­spiel für ein niedrigschwelliges Beteiligungsangebot für ältere Menschen sind die Kiezspaziergänge in Moabit, bei de­nen Defizite im Quar­tier erhoben und vor Ort diskutiert wer­den.
  • Stra­te­gie „Ko­o­pe­ra­ti­ve Leitbildentwicklung“
    Die Ei­ni­gung auf ein verbindliches Leit­bild sollte die Grund­la­ge für die weitere Quartiersentwicklung sein. Hierzu sollte ein starkes, bereichsübergreifendes Bünd­nis zwi­schen der Kom­mu­ne, lokalen Akteuren, Privateigentümerinnen und -eigentümern von Im­mo­bi­lien und Wohnungswirtschaft so­wie der Be­woh­ner­schaft ge­schlos­sen wer­den. Die frühzeitige Ko­o­pe­ra­ti­on aller beteiligten Grup­pen an der Ent­wick­lung ei­nes Quartiers fördert die Nach­hal­tig­keit, so­zi­ale Verträglichkeit und Ak­zep­tanz von Veränderungen. Dabei tra­gen die kommunalen Vertreterinnen und Vertreter die Verantwortung für die am Gemeinschaftswohl orientierte Prozesssteuerung und Mo­de­ra­ti­on. Ein Bei­spiel für die Durch­füh­rung ei­nes kommunalen Dialogs un­ter Beteiligung der un­terschiedlichen Akteursgruppen bietet das 10. Sozialpolitische Hearing der Stadt Kiel.
  • Stra­te­gie „Gezielte Im­ple­men­tie­rung von gesundheitsförderlichen und Teilhabe-Angeboten für vulnerable Ziel­grup­pen“
    Eine gezielte Im­ple­men­tie­rung und För­de­rung von An­ge­bo­ten für vulnerable Ziel­grup­pen in Quar­tieren, die sich im Aufwertungsprozess be­fin­den, kann die Aus­gren­zung von be­nach­tei­lig­ten alten Menschen verhindern oder mil­dern. Die Kom­mu­ne sollte ih­re Handlungsmöglichkeiten hier nicht oh­ne Not aus der Hand ge­ben, z. B. durch die Privatisierung öffentlicher An­ge­bo­te. Zudem sollten ressourcenstarke Akteure und Be­woh­nerin­nen und Bewohner im Quar­tier zum En­ga­ge­ment für vulnerable Bevölkerungsgruppen ermutigt wer­den. Ein Bei­spiel für die För­de­rung von Eh­ren­amt und den Trans­fer von Sozialkapital ist das Projekt „Q8“ der Evangelischen Stif­tung Alsterdorf in Hamburg.

Weitere Informationen zum Thema können Sie den Seiten
des Instituts für Gerontologische Forschung entnehmen.

Für weiterführende Literaturhinweise klicken Sie bitte auf "mehr"

Adam, B.; Sturm, G. (2014) Was bedeutet Gentrifizierung und wel­che Rol­le spielt die Auf­wer­tung städtischer Wohnbedingungen? In: BBSR. Zwischen Er­halt, Auf­wer­tung und Gentrifizierung. Informationen zur Raumentwicklung. Heft 4, 267 - 275

Holm, A. (2014) Gentrifizierung - mitt­ler­wei­le ein Mainstreamphänomen? In: BBSR. Zwischen Er­halt, Auf­wer­tung und Gentrifizierung. Informationen zur Raumentwicklung. Heft 4, 277-289

Phillippson, C. (2010) Ageing and Urban Society: Growing Old in the „Century of the Ci­ty“. In: Dannefer, D.; Phillipson, C. (Hg.) The SAGE Handbook of Social Gerontology. Lon­don. 597-606

Rowles, G.; Ravdals, H. (2002) Ageing, place and meaning in the face of changing circumstances. In: Weiss, R.; Bass, S. (Hg.) Challenges of the Third Age: Meaning and Purpose in Later Life. Ox­ford: Ox­ford University Press

Unger, H. v.; Wright, M. (2007): Stu­fen der Par­ti­zi­pa­ti­on in der Ge­sund­heits­för­de­rung. Ein Mo­dell zur Be­ur­tei­lung von Beteiligung. Infodienst für Ge­sund­heits­för­de­rung 3-2007, S. 4-5

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