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25.05.2021

Sozialraumorientierung stationärer Pflegeeinrichtungen

Forschungsergebnisse aus Thüringen

Björn Eifler, Landesvereinigung für Ge­sund­heits­för­de­rung Thü­rin­gen e.V. (AGETHUR)

Schlagwörter:Pflege, Sozialraum, Ältere

Hintergrund

In Zusammenhang mit der stetigen Zunahme von stationär versorgten Menschen in Thüringen sucht die Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit (KGC) im Arbeitsbereich „Gesundheitsförderung und Pflege im Quartier“ neue Wege, die der Exklusion von Bewohner*innen vollstationärer Pflegeeinrichtungen entgegenwirken und zu mehr Lebensqualität, gesellschaftlicher Teilhabe, Inklusion und Selbstbestimmung beitragen. Denn Kontakte zu anderen Menschen und die Teilhabe am sozialen Leben sind für die meisten Menschen ein Garant für mehr Selbstbestimmung und guter Lebensqualität. Mit dem Eintreten einer Hilfe- und Pflegebedürftigkeit steigt allerdings im ambulanten wie im stationären Bereich die Gefahr von sozialer Isolation, sozialer Exklusion, Inaktivität und Vereinsamung. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ist die soziale Isolation sowie die Einsamkeit von stationär versorgten Pflegebedürftigen weiter angestiegen. Nach Studienlage ist davon auszugehen, dass in Deutschland bereits vor der Pandemie 22 bis 42 Prozent der über 60-jährigen Bewohner*innen in stationären Pflegeeinrichtungen von Einsamkeit betroffen waren. Dieser Wert liegt doppelt so hoch wie bei Älteren, die in den eigenen vier Wänden leben (vgl. Körber Stiftung 2019, S. 4). Die Geschehnisse verdeutlichen, dass es nicht ausschließlich an ausreichend Personal mangelt, sondern ebenso an Selbstbestimmung und Partizipation von Pflegebedürftigen bzw. ihren gesetzlichen Vertreter*innen.  

Der von uns in Betracht gezogene Handlungsansatz der Öffnung von stationären Pflegeeinrichtungen folgt der Überzeugung, dass die Verbesserung der Lebensqualität von hochaltrigen Menschen in der stationären Pflege aufgrund der durchschnittlichen Verweildauer von 30,6 Monaten (De Vries, Techtmann 2019) nicht primär nach verhaltenspräventiven Ansätzen verlangt, sondern Maßnahmen in den Fokus rückt, welche das Lebensumfeld von Pflegebedürftigen verbessern. Das Agieren auf der Verhältnisebene schafft zudem die Möglichkeit, Pflege nicht auf Krankheit, Defizite, Beeinträchtigungen und Einschränkungen zu reduzieren, sondern als Brückenbauer zu verstehen, der soziale Zuwendung, soziale Anerkennung und soziale Einbindung ermöglichen kann. Da zu den sozialräumlichen Perspektiven von stationären Pflegeeinrichtungen nur sehr wenige empirisch gesicherte Erkenntnisse vorhanden sind, haben wir uns dazu entschieden, in einem ersten Schritt eine explorativ ausgelegte Vorstudie durchzuführen, die einen Orientierungsrahmen für das weitere Vorgehen darstellt.  

Fragestellung und Methodik

Auf der Grundlage eines qualitativen Forschungsdesigns wurden leitfadengestützte Expert*innen- Interviews mit Akteur*innen des Thüringer Altenpflegesektors (Wohlfahrtsverbände, private Anbieter, Quartiersmanagement, Einrichtungsleitungen, Pflegefachkräfte) durchgeführt. Ziel war es, sozialraumbezogene Handlungen und Aktivitäten sowie grundlegende Möglichkeiten und Bedingungen sozialraumorientierter Arbeit in der stationären Pflege in den Fokus zu setzen, ohne davon auszugehen, dass Sozialraumorientierung bereits systematisch in Konzeption und Handlungspraxis der befragten Expert*innen vorhanden ist.  

Ergebnisse

Erfreulicherweise haben die Interviews ergeben, dass alle Expert*innen von der Notwendigkeit einer Öffnung der stationären Pflege überzeugt sind und zudem mehrheitlich klare Vorstellungen von sinnvollen Öffnungsschritten besitzen.

Weitere konkrete Ergebnisse sind:

  • Die Experten erhoffen sich von entsprechenden Maßnahmen ein Plus an Gesundheit und Lebensqualität für die Bewohner*innen, einen Imagegewinn für die Einrichtungen und den Abbau von Vorbehalten gegenüber stationärer Pflege.
  • Die Schwerpunkte der Quartiersarbeit einer stationären Pflegeeinrichtung sollte nach Aussage der Interviewten auf Kooperationen im Umfeld (z. B. Schulpraktika, Kindergarten, Seniorenbüros, Offener Gottesdienst) und in der Einbindung von Ehrenamtlichen beruhen.
  • Die meisten Befragten bejahen die Möglichkeit alternativer Raumnutzungskonzepte für erweiterte Betreuungs-, Dienstleistungs- und Beratungsleistungen (Unterbringung von Praxisräumen, Angliederung eines ambulanten Pflegedienstes, Vereinsveranstaltungen, Sitzungen des Stadtrats, VHS-Kurse).
  • Eine vorangehende Bestands- und Bedarfsanalyse - bei Pflegebedürftigen und Angehörigen, ggf. auch mittels einer Bürgerbefragung im Quartier - gilt als Voraussetzung jeder Öffnungsstrategie.
  • Nicht „ambulant vor stationär“, sondern „ambulant und stationär“ ist die Devise der Befragten: Die Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Pflege müssen abgebaut werden, um die mit der Quartiersarbeit verbundenen Aktivitäten realisieren zu können, so die überwiegende Einschätzung.
  • Ein interessanter, jedoch nur am Rande angesprochener Aspekt: die Weiterentwicklung der stationären Pflegeeinrichtung zu einem quartierseigenen Versorgungszentrum für Pflege und Gesundheit, das für alle zugänglich ist.

Insgesamt betrachtet lassen die Ergebnisse die Erkenntnis zu, dass die Öffnung von Pflegeeinrichtungen zu einer Win-Win-Situation für alle Menschen im Quartier führen kann, wenn die Einrichtungen durch die Öffnung zu einer Drehscheibe lebendiger Begegnungen werden. So könnten Bürger*innen und Netzwerke die Ressourcen einer Pflegeeinrichtung nutzen, zum Beispiel für Kulturveranstaltungen und alltagsrelevante Dienstleistungen (offener Mittagstisch, Friseur, Fußpflege, Physiotherapie), Pflegeberatung, sowie Schulungen zur Gesundheit und Pflege. Weitere Vorteile wären:

  • Die Verknüpfung von wohnortnaher Versorgung und Pflege fördert die Selbständigkeit von älteren Menschen (Tagespflege, Kurzeitpflege, alternative Wohnformen).
  • Partnerschaften mit sozialen Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten ermöglichen einen Austausch von Alt und Jung (Generationenarbeit).
  • Die Öffnung von Pflegeeinrichtungen ins Quartier trägt zur Sensibilisierung der Bevölkerung dahingehend bei, dass Altenpflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
  • Der Abbau von Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Pflege bewirkt eine bessere Verzahnung von Versorgungs- und Betreuungsangeboten im Quartier.

Übertragbarkeit der Ergebnisse

Die Ergebnisse der Untersuchung können für eine Annäherung an die Thematik und für die Entwicklung von Konzepten genutzt werden. Bei der Entwicklung von Konzepten ist es jedoch zwingend notwendig, die länderspezifischen gesetzlichen Regelungen für die stationäre Pflege sowie evtl. vorhandene Landesprogramme für die finanzielle Förderung zu beachten.

Für die praktische Umsetzung sind bundeslandübergreifend mehrere Aspekte anzuführen, die eine Öffnung von stationären Pflegeeinrichtungen erschweren. Allen voran sind hierbei die Vorgaben der Sozialgesetzbücher V und XI und das damit verbundene Leistungsrecht zu nennen, die Zusammengenommen wenig Spielraum für eine Weiterentwicklung der stationären Pflege bzw. für innovative und regelhaft finanzierte Konzepte lassen. Hinzu kommt die hemmende Wirkung des Ordnungs- und Versicherungsrechts sowie das Paradigma der Wirtschaftlichkeit von Angeboten, welche die Bemühungen erschweren.  

Aus normativer Sicht ist die Öffnung von stationären Pflegeeinrichtungen in den Sozialraum Quartier eine freiwillige Aufgabe, die durch fehlende finanzielle und personelle Ressourcen sowie konzeptionelle Hilfen geprägt ist. Zwar fordert der Gesetzgeber speziell in Thüringen im Rahmen des Wohn- und Teilhabegesetzes Einrichtungsträger dazu auf, Bewohner*innen in das Gemeinwesen einzubeziehen (§ 8 ThürWTG), jedoch enthält die Bestimmung keinerlei Kriterien, die für die Sozialraumorientierung oder eine geregelte Gegenfinanzierung relevant wären und den Einrichtungsleitungen als Motivation bzw. Orientierungshilfe dienen könnten.  

Letztendlich bleibt neben den genannten hinderlichen Rahmenbedingungen ein unkalkulierbarer Faktor für die Umsetzung von Projekten, der das Verhältnis der Gesellschaft zur Altenpflege betrifft. Durch die weit verbreiteten negativen Vorbehalte gegenüber der stationären Pflege und Abgrenzung zu Themen wie Vergänglichkeit oder Krankheit besteht die Gefahr, dass selbst nach den Kriterien der Gesundheitsförderung konzipierte Angebote von den Bewohner*innen des Quartiers nicht angenommen werden.   

Ausblick

In einem weiteren Schritt wird die KGC Thüringen die gewonnenen Erkenntnisse dazu nutzen, gemeinsam mit den Akteur*innen des Pflegesektors, der Gesundheitsförderung und der Wissenschaft Konzepte für ein Modellvorhaben in Thüringen zu entwickeln. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es mit Hinblick auf die anhaltende Pandemie notwendig, einen geeigneten Mittelweg zwischen dem Schutz der Bewohner*innen als Risikogruppe und dem menschlichen Bedürfnis nach Selbstbestimmung und sozialen Kontakten zu finden.  



Die vollständige Forschungsarbeit können Sie digital unter www.agethur.de/arbeitsschwerpunkte/alter-und-gesundheit/gesundheitsfoerderung-und-pflege-im-quartier.html abrufen oder die Druckversion kostenfrei über den Autor bestellen.



Literatur:
De Vries, B.; Techtmann, G.: Die Männer bleiben länger. In: Altenheim. Ausgabe 11. Hannover: Vincentz, 2019 (S. 52-55).
Körber Stiftung: (Gem)einsame Stadt? Kommunen gegen soziale Isolation im Alter. Hamburg: Körber Stiftung, 2019.

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