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12.06.2012

Kinderreport Deutschland 2012

Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen und Resilienz

Uwe Kamp, Deutsches Kinderhilfswerk e.V.

Schlagwörter:Armut, Eltern, Kita, Teilhabe

Mit dem „Kinderreport Deutsch­land 2012 - Mit­be­stim­mung in Kinder­tages­ein­rich­tun­gen und Resilienz“ lenkt das Deut­sche Kin­der­hilfs­werk den Blick auf die Mit­be­stim­mung im Vorschulalter. Pro­fes­sor Ro­nald Lutz von der Fach­hoch­schu­le Er­furt hat da­für im Auf­trag des Deut­schen Kinder­hilfs­wer­kes die bis­her nicht im Mit­tel­punkt stehenden Einflussgrößen der frühen Partizipationserfahrungen für die Ent­wick­lung von Resilienz und als Aus­weg aus der Vererbung von Ar­mut untersucht.

Wesentliche Ergebnisse

1. Frühe Beteiligung durchbricht den Kreislauf der Vererbung von Armut

Mit der Stu­die konnte gezeigt wer­den, dass Kinder durch Mit­be­stim­mung schon in jungem Al­ter soziale Kompetenzen ent­wi­ckeln, die sie stark ma­chen. Die positiven Beteiligungsmöglichkeiten im All­tag sind Faktoren, die Ei­gen­ini­ti­a­ti­ve und Verantwortungsübernahme för­dern. Dadurch kön­nen die Kinder er­folg­reich mit aversiven Reizen um­ge­hen. Für Kinder aus be­nach­tei­lig­ten sozialen La­gen ist es al­so von be­son­derer Be­deu­tung, schon im jun­gen Al­ter in der Kita entsprechende Er­fah­rung­en ma­chen zu kön­nen. Durch frühe Mit­be­stim­mung kön­nen die Kinder die Fol­gen von sozialer Be­nach­tei­li­gung kom­pen­sie­ren. Mit­be­stim­mungsprozesse ent­wi­ckeln und för­dern das Selbst­be­wusst­sein, die Selbstwirksamkeit und die sozialen Kompetenzen. Dies kann zu­gleich negative Er­fah­rung­en in be­nach­tei­lig­ten El­tern­häu­sern lang­fris­tig aus­glei­chen, da­mit bietet Mit­be­stim­mung in der Kita einen Weg, um Ar­muts­folgen für Kinder zu be­kämp­fen, einen Weg aus der Ar­mut heraus.

2. Mitbestimmung macht stark, je intensiver Mitbestimmung umgesetzt wird, desto stärker

Es wurde deut­lich, dass Kinder des­to stärker und so­mit resilienter wer­den, je mehr sie an Ent­schei­dung­en, Pla­nung­en und Abläufen der Kindergärten beteiligt wer­den: Mit­be­stim­mung er­mög­licht Re­si­lienz. Je intensiver Ein­rich­tung­en Kinder im Sinne einer realen Mit­be­stim­mung be­tei­li­gen, des­to klarer er­kenn­bar wird deren Wirk­sam­keit hinsichtlich der Er­mög­li­chung von Re­si­lienz. Die neuen Mus­ter von Mit­be­stim­mung („Kin­der­stu­be der De­mo­kra­tie“) zei­gen Wir­kung­en bei den Kin­dern; es gibt so in den Wahr­neh­mung­en, dem Wissen und den Er­zäh­lung­en der Ge­sprächs­part­ner un­über­seh­bare Hinweise auf ein sich veränderndes Verhalten und sich entwickelnde soziale Kom­pe­ten­zen der Kinder, wenn diese stärker beteiligt und eingebunden wer­den.

3. In Kindertagesstätten spielen Kinderrechte noch keine Rolle

Kinderrechte im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention ste­hen bei keiner der befragten Ein­rich­tung­en in der Kon­zep­ti­on. Kinderrechte wer­den stärker als ein The­ma der Bil­dung von Kin­dern gesehen und we­ni­ger als ein As­pekt der tatsächlichen Alltagsabläufe. Dabei gibt es vielfältige Mög­lich­keit­en, Kin­der­rech­te in Kindertageseinrichtungen struk­tu­rell zu verankern. Das kön­nen Formen wie Kin­der­kon­fe­ren­zen, Kin­der­räte oder Kinderparlamente sein. Am nachhaltigsten geschieht dies aber in der Er­ar­bei­tung einer Kita-Verfassung, in der Kin­der­rechte, Entscheidungswege und Ent­schei­dungs­gre­mien verbindlich fest­ge­schrie­ben und umgesetzt wer­den.

4. Die Qualifizierung der Fachkräfte zu Mitbestimmung steigert die Qualität von Kindertageseinrichtungen

Erkennbar wurde, dass Mit­be­stim­mung in Kindereinrichtungen als Voraussetzung der Re­si­lienz­för­de­rung auf gewissen Voraussetzungen aufbaut bzw. bestimmter Kontexte bedarf, die sie mehr oder weniger er­mög­li­chen, nämlich den professionellen Ein­stel­lung­en und Haltungen von Er­zie­he­rin­nen, die Mit­be­stim­mung als As­pekt des Bildungsauftrags von Kindergärten se­hen; den Strukturen des Alltags, die Mit­be­stim­mungsformen den notwendigen Raum öff­nen müs­sen; den Fest­le­gung­en in Konzepten der Ein­rich­tung­en. Wir brau­chen als Konsequenz der Ergebnisse ein breit gefächertes Mo­dul „Mit­be­stim­mung von Kin­dern im demokratischen Kin­der­gar­ten“, das zum verbindlichen Stan­dard der Aus- und Fort­bil­dung und der Teambildung wer­den sollte.

5. Kinderpolitik: Politik mit Kindern, nicht Politik für Kinder

Beteiligung, die zu den in Punkt 1 geforderten Ergebnissen führt, funktioniert nur mit ei­ner Kinderpolitik, und zwar ei­ner Politik mit Kin­dern, ei­ner beteiligenden Politik, die auf den Kinderrechten ruht und diese zur Verwirklichung führt. Kinder als Subjekte ihres Lebens zu be­trach­ten und nicht mehr nur als Ab­hän­gi­ge, die ei­ne lange Pha­se der Vorbereitung benötigen um selbst zu wer­den, reflektiert den An­spruch der Mo­der­ne auf Ent­fal­tung von In­di­vi­du­a­li­tät. Der Kinderreport 2012 bestätigt, dass sich in Deutsch­land noch im­mer ei­ne Tendenz findet, Kinderrechte aus­schließ­lich als Schutzrechte (Schutz vor körperlicher und seelischer Ge­walt) oder Versorgungsrechte (Bil­dung und Teil­ha­be an ge­sell­schaf­tli­chen Res­sour­cen) zu the­ma­ti­sie­ren. Vor dem Hintergrund die Mit­be­stim­mung durch Kinder zu le­gi­ti­mie­ren, wer­den Kin­der­rechte sel­ten zum Aus­druck gebracht.

Forderungen des Deutschen Kinderhilfswerkes

Aus den Ergebnissen der Studie „Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen und Resilienz“ leiten sich für das Deutsche Kinderhilfswerk fünf zentrale Forderungen ab.

1. Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention gilt ohne Altersbeschränkung, auch in Kitas!

Das Recht, gehört zu wer­den steht auch schon den Jüngsten zu. Kitas haben mitt­ler­wei­le einen Bildungsauftrag, des­sen Kern auch die Demokratieförderung sein muss. Mit­be­stim­mung wird da­mit ein Grund­satz der Pä­da­go­gik in Kindergärten.

2. Mitbestimmung dient der Überwindung von Kinderarmut. Das Potential von Partizipation für die Selbstwertsteigerung muss genutzt werden!

Kinder, auch die Kleinsten, sind schon Ex­per­ten für die eigenen An­ge­le­gen­heit­en. Bisher lie­gen diese Mög­lich­keit­en wei­test­ge­hend brach, da die Kompetenzen der Kinder nicht genutzt wer­den. Mit dem dargelegten Zu­sam­men­hang von Mit­be­stim­mung in Kindertageseinrichtungen und Resilienz müs­sen wir ar­bei­ten.

3. Fachkräfte brauchen für die neuen Aufgaben Qualifizierungsmaßnahmen!

Durch die neuen An­for­de­rung­en besteht ei­ne große Un­si­cher­heit, wie Fachkräfte die Rah­men­be­din­gung­en für Mit­be­stim­mung in Kitas ge­stal­ten kön­nen. Es gibt zwar schon ei­ni­ge Projekte und Konzepte, die aber noch nicht flä­chen­de­ckend in der Politik und der Pra­xis angekommen sind.

4. Politik muss auf Augenhöhe der Kleinsten stattfinden!

Beteiligung, die Kinder stark macht, funktioniert nur mit einer Politik, die Kinder ernst nimmt. Mit­tel­punkt politischen Handelns muss das kompetente Kind sein. Kinder sind eigenständige Per­sön­lich­keit­en mit vielfältigen Fä­hig­keit­en. Wir müs­sen ih­nen helfen, stark und gleich­be­rech­tigt zu sein, da­mit sie mit ihrer Kre­a­ti­vi­tät und Kom­pe­tenz un­se­re Ge­sell­schaft mitgestalten kön­nen.

5. Um die notwendigen Änderungen zu erreichen, müssen wir die Eltern mitnehmen!

Nicht nur Fachkräfte sind von den neuen Ent­wick­lung­en häufig überfordert. Auch Eltern sind oft überrascht, zu was ih­re Kinder schon in der La­ge sind. Die Kinderrechte sind in vielen Elternhäusern wei­ter­hin nicht be­kannt.

Studiendesign

Der Kinderreport 2012 lehnt sich an Vorstellungen der qualitativen So­zial­forschung an. Dabei soll die Un­ter­schied­lich­keit der Per­spek­ti­ven auf den Ge­gen­stand der Un­ter­su­chung verdeutlicht wer­den, in­dem durch problem­zen­trier­te Interviews Wissen, Ein­stel­lung­en, Mus­ter, Er­fah­rung­en, Wahr­neh­mung­en und Er­zäh­lung­en deutend aufbereitet und verdichtet wer­den. Bei der Fallauswahl für ei­ne solche Un­ter­su­chung steht nicht Re­prä­sen­ta­ti­vi­tät im Vordergrund. Vielmehr wer­den die zu untersuchenden Fälle nach dem Kri­te­ri­um ausgewählt, ob sie neue Erkenntnisse vermuten las­sen, bis ei­ne theoretische oder em­pi­ri­sche Sät­ti­gung erreicht ist. Nach zwölf untersuchten Ein­rich­tung­en war dies im Fall die­ser Stu­die erreicht. Die Aus­wahl der Kin­der­tages­ein­richtungen war am Prinzip ei­ner mög­lichst großen Brei­te und des Einbezugs der Vielfalt orientiert. Im Sam­ple waren so­mit Kindergärten mit ei­nem re­li­giö­sen Hin­ter­grund, staatliche Ein­rich­tung­en so­wie solche freier Träger; die Kindergärten lagen so­wohl in Ge­bie­ten mit ei­ner brei­ten Mit­tel­schicht als auch in so­zi­al be­nach­tei­lig­ten Ge­bie­ten. Die ausgewählten Ein­rich­tung­en lagen da­bei im Großraum Er­furt und Wei­mar. Als Er­gän­zung zu den Interviews fand, nach der Aus­wer­tung der Interviews, ein Work­shop mit 25 Er­zie­he­rin­nen statt, in des­sen Verlauf die zentralen The­sen des Materials noch einmal diskutiert und verdichtet wurden. Zu­sätz­lich zu diesen qualitativen Me­tho­den wurden die Konzepte der befragten Ein­rich­tung­en analysiert.

Der „Kinderreport Deutsch­land 2012“ erscheint im Verlag familymedia und hat die ISBN 978-3-86613-701-1, er kostet 14,95 Eu­ro.

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