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06.09.2022

Auf die Infrastrukturen kommt es an

Das Wohlbefinden von Immigrant*innen und deren Nachkommen ist in migrantisch geprägten Nachbarschaften höher

Sarah Carol, University College Dublin
Merlin Schaeffer, Universität Kopenhagen
Jonas Wiedner, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Schlagwörter:Migration

  

Subjektives Wohlbefinden bei Immigrant*innen und ihren Nachkommen

Lebenszufriedenheit ist ein Kernbestandteil von Wohlbefinden und damit von zentralem Interesse für die Migrationsforschung. Immigrant*innen verlassen ihr Herkunftsland oftmals mit dem Wunsch, ihre Lebenssituation und die ihrer Nachkommen zu verbessern. Dies tritt jedoch nicht immer ein, da sie am neuen Wohnort teilweise Diskriminierung und einen Statusverlust auf dem Arbeitsmarkt erfahren oder sich in Nachbarschaften mit sozio-ökonomischer Benachteiligung wiederfinden. Dementsprechend zeigen bisherige Studien, dass Immigrant*innen und ihre Nachkommen ein geringeres Wohlbefinden aufweisen. Wie auch bei der Mehrheitsgesellschaft, ist das Einkommen relevant. Darüber hinaus können speziell für Immigrant*innen auch der Aufenthaltsstatus und die Möglichkeit, sich verständigen zu können, relevant sein. Wenig Forschung hat bisher die Rolle von Nachbarschaften in den Blick genommen. Die Studien, die sich mit der Wohnsituation und Nachbarschaften von Immigrant*innen und ihren Nachkommen auseinandersetzen, machen dies selten unter dem Gesichtspunkt des subjektiven Wohlbefindens.

Subjektives Wohlbefinden und Nachbarschaften

Wie oben erwähnt, sind Nachbarschaften in denen Immigrant*innen und ihre Nachkommen leben, oftmals durch sozio-ökonomische Benachteiligung gekennzeichnet. Zudem findet sich dort eine erhöhte Schadstoff- und Kriminalitätsbelastung sowie ein mangelnder Zugang zu guten Schulen und Grünflächen. Dies wirft die Frage auf, was ethnisch diverse Innenstadtviertel für Immigrant*innen und ihre Nachkommen so attraktiv macht. Ein Teil der Forschung legt nahe, dass eine Nachbarschaft, in der viele Menschen derselben Herkunft leben, Infrastrukturen bieten, wie zum Beispiel Lebensmittelgeschäfte, Vereine und Gebetshäuser, die auch als soziale Treffpunkte fungieren und einen Ort der Vertrautheit in der Fremde darstellen können. Während ein Umzug in eine besser gestellte Nachbarschaft, die durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft geprägt ist, eine höhere Lebensqualität versprechen kann, bedeutet dies für Immigrant*innen und ihre Nachkommen den möglichen Verlust sozialer Einbettung und mögliche Diskriminierungserfahrungen.

Das WELLMOB-Projekt

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte WELLMOB-Projekt widmet sich der Frage, wie sich diese ethno-religiösen Infrastrukturen auf das subjektive Wohlbefinden auswirken können. Vor zwei Jahren haben wir damit begonnen, räumliche Daten zu migrantischen Lebensmittelgeschäften, Gebetsstätten und Vereinen in Deutschland zu sammeln. Wir haben einen Datensatz mit circa 25.000 Einträgen für rund 60 ethnische und religiöse Gruppen erstellt. Um in einem nächsten Schritt den Zusammenhang mit Lebenszufriedenheit als Indikator von subjektivem Wohlbefinden untersuchen zu können, haben wir diese neuartigen Daten mit den Umfragedaten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) kombiniert.

Ergebnisse

Zunächst einmal beobachten wir, dass nicht alle ethno-religiösen Gruppen gleichermaßen ihre eigenen Infrastrukturen aufbauen. Gruppen aus dem mittleren Osten und dem subsaharischen Afrika bauen relativ zu ihrer Gruppengröße mehr Infrastrukturen auf, die ihnen dann helfen können, sich wohlzufühlen. Besonders hoch ist der Bedarf bei Personen, die aus kulturell unterschiedlichen Herkunftsländern stammen. Weitergehende Analysen legen nahe, dass Immigrant*innen und ihre Nachkommen sich nicht automatisch wohler fühlen, wenn sie in einer Nachbarschaft mit Menschen derselben Herkunft leben. Die Präsenz von Vereinen als Ort der Zusammenkunft hat jedoch das Potential, das Wohlbefinden von Immigrant*innen und ihren Nachkommen zu steigern, während Lebensmittelgeschäfte und Gebetshäuser keine zentrale Rolle spielen. Dies trifft insbesondere auf jene Angehörige der zweiten Generation zu, die sich mit dem Herkunftsland der Eltern identifizieren. Interessanterweise gibt es hier somit keine abnehmende Bedeutung über Generationen, obwohl man annehmen könnte, dass diese Vereine primär für die erste Generation relevant sind, die nach einem vertrauten Ort in der Fremde sucht. Flüchtlinge, die erst seit relativ kurzer Zeit in Deutschland leben, stellen eine weitere Gruppe dar, die von ethnischen Vereinen profitiert und ein höheres Wohlbefinden zeigt, wenn sie in der Nähe dieser Infrastrukturen wohnen.

Ausblick

Aus unseren Analysen können wir schlussfolgern, dass für manche Immigrant*innen und ihre Nachkommen die Einbettung in Nachbarschaften und ihre zivilgesellschaftlichen Strukturen eine Rolle für ihr Wohlbefinden spielen kann. Dieser Befund steht einer Perspektive entgegen, die migrantisch geprägte Viertel auf Grund ihrer sozio-ökonomischen Zusammensetzung nur als Belastung für Immigrant*innen und ihre Nachkommen wahrnimmt. Wer migrantisch geprägte Viertel nur als Problem begreift, übersieht, dass für viele Immigrant*innen und ihre Nachkommen ein Umzug in einheimisch dominierte Nachbarschaften auch einer Entwurzelung gleichkommen kann. Nichts desto trotz kann die Durchmischung von Nachbarschaften, die sowohl Infrastrukturen für Immigrant*innen und ihre Nachkommen als auch Kontaktmöglichkeiten zu Menschen und Institutionen der Aufnahmelandgesellschaft ermöglichen, ihnen zu mehr sozio-ökonomischer und gesundheitlicher Chancengleichheit verhelfen, wie wir aus der existierenden Forschung wissen. Eine sozialräumliche Gesundheitspolitik, die Chancengleicheit zwischen Einheimischen und Zugewanderten zum Ziel hat, sollte daher Zugang zu hochqualitativen Gesundheitsdienstleistungen auch in sozio-ökonomisch benachteiligten Vierteln sicherstellen.

Weiterführende Literatur:

Wiedner J, Schaeffer M, Carol S. Ethno-religious neighbourhood infrastructures and the life satisfaction of immigrants and their descendants in Germany. Urban Studies. February 2022. doi:10.1177/00420980211066412

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