Das Projekt „Familienhebammen in Sachsen-Anhalt“ wurde vom Landesbündnis für Familien Sachsen-Anhalt im Jahr 2005 initiiert. In der Zeit zwischen Juni 2005 bis April 2006 wurden alle organisatorischen sowie verwaltungstechnischen Voraussetzungen für die Durchführung des Projekts geschaffen. Verantwortlich für die Projektdurchführung ist der Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt e.V.
In der Zwischenevaluation des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg wird beschrieben, dass sich bei 40 Prozent der Familien, die durch das Projekt erreicht wurden, zwischen einem und drei Risiko- bzw. Belastungsfaktoren, bei 44 Prozent vier bis sechs und bei 5 Prozent sieben bis elf Risiko- bzw. Belastungsfaktoren zeigen. Rund 80 Prozent aller Familien haben extreme Probleme, zum Beispiel eine eingeschränkte Fähigkeit in der Alltagsbewältigung, Anzeichen für Überforderung oder Hilflosigkeit, Hinweise auf Vernachlässigung bei der Versorgung des Säuglings oder ein schwieriges Kind bzw. „Schreibaby“).
Gut 64 Prozent der Frauen sind unter 25 Jahre alt, 66 Prozent haben entweder (noch) keinen Schulabschluss oder einen Sonder- bzw. Hauptschulabschluss und 32 Prozent leben ohne Partner. 72 Prozent der Frauen sind arbeitslos. Der Gesundheitszustand ist nur bei 8 Prozent schlecht. 42 Prozent von 119 Klientinnen erwarten ihr erstes Kind, weitere 47 Prozent haben zwei bis sieben Kinder (Ayerle & Sadowski 2007).
Da die Arbeit mit Familien in Risikokonstellationen nicht zur Ausbildung einer staatlich examinierten Hebamme gehört, ist eine Zusatzqualifikation notwendig, die durch eine Weiterbildung erworben wird. Diese setzt sich aus 8 theoretischen und praxisreflektierenden Modulen von jeweils 3 Tagen zusammen, wobei das 8. Modul nur 2 Tage umfasst und die Abschlussprüfung beinhaltet. Die Module beginnen immer im Februar und enden im November des jeweiligen Jahres. Die Monate Juli und September sind dabei modulfreie Zeit. Nach Absolvierung des 3. Moduls nehmen die Hebammen bereits ihre Arbeit in und mit den entsprechenden Familien auf. Parallel dazu werden die restlichen Weiterbildungsmodule absolviert. Insgesamt umfasst die Weiterbildung 162 Präsenzstunden plus 100 Stunden Eigenarbeit und Prüfung. Themen: Adoptionsgesetz, Hygienegesetz, Grundlagen des Gesundheitswesens, Hebammenberufs- und Gebührenverordnung, Psychologische Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes, gewaltbereite Väter, Asylrecht, Sorgerecht, Pflegschaftsrecht, Familienrecht, Migranten Teenagerschwangerschaften, Sucht, Kindeswohlgefährtdung, Datenschutz, Verhütung, Kindestot, Verlust, Trauerbegleitung, Casemangement, Falldarstellungen, Organisatorisches, Netzwerkaufbau etc. Das Curriculum ist an ein Curriculum angelehnt, welches vom Bund Deutscher Hebammen entwickelt worden ist. Die Weiterbildungsmodule finden jeweils in Magdeburg und Halle statt.
Interessierte Hebammen, die sich zur Familienhebamme ausbilden lassen wollen, bewerben sich beim Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt. Dort werden sie in Zusammenarbeit mit dem Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt e.V. nach bestimmten Kriterien ausgewählt. Folgende Grundvoraussetzungen sind für die Tätigkeit einer Familienhebamme notwendig:
- Eine abgeschlossene Ausbildung zur staatlich examinierten Hebamme;
- Eine mindestens dreijährige Tätigkeit als Hebamme;
- Mitgliedschaft im Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt;
- Freiberufliche Tätigkeit;
- Die Bereitschaft mindestens ein Jahr im Projekt tätig zu sein;
- Die Bereitschaft zur Teilnahme an wiederkehrenden Supervisionen;
- Gutes Einfühlungsvermögen;
- Soziales Engagement.
Im April 2006 begannen die ersten zehn Hebammen mit ihrer Zusatzqualifikation zur Familienhebamme. Sie versuchen, schwangere Frauen bzw. Familien, die eine Geburt erwarten und ein Risikopotenzial aufweisen, möglichst noch während der Schwangerschaft, spätestens jedoch nach der Geburt des Kindes zu erreichen. Bei medizinischen und sozialen Problemen werden die Familien während der Schwangerschaft bzw. im ersten Lebensjahr des Kindes intensiv betreut. Die Familienhebammen fördern die Inanspruchnahme von Untersuchungen zur Schwangerenvorsorge und Früherkennung bei den Kindern, insbesondere bei medizinischen und sozialen Risikogruppen. Sie wirken auf das Verhalten der Frauen bzw. Eltern positiv ein, indem sie zum Beispiel auf die Schädlichkeit von Alkohol- und Tabakkonsum hinweisen und dabei unterstützen, ärztliche Ratschläge zu befolgen. Dabei arbeiten sie eng mit allen an der Versorgung beteiligten sozialen und medizinischen Institutionen zusammen.
Die Familien werden von Hebammen, Arztpraxen, Beratungszentren, Jugendamt, Bewährungshilfe und anderen Akteuren aus dem Gesundheits- und Sozialbereich, die interdisziplinär vernetzt sind an die Familienhebammen weitervermittelt. Dies kann während der Schwangerschaft, nach der Geburt, nach dem Wochenbett oder im Laufe des ersten Lebensjahres des Kindes erfolgen.
Die Betreuung der Familien findet in der Regel im vertrauten häuslichen Bereich statt. Laut Zwischenevaluation wurden im Zeitraum Juni 2006 bis März 2007 knapp 150 Familien durch zehn Familienhebammen begleitet.
Pro Frau bzw. Familie entfielen im Durchschnitt 8,3 Leistungen auf die Begleitung in der Schwangerschaft sowie 48,5 Leistungen auf die gesundheitliche Versorgung und 21,4 Leistungen auf die psychosoziale-funktionelle Unterstützung im ersten Lebensjahr des Kindes.
Die Zusammenarbeit mit Akteuren aus dem Gesundheits- und Sozialwesen umfasste in der Begleitung von Schwangeren und Müttern in den Jahren 2006 und 2007 im Durchschnitt 3,9 Leistungen pro Familie (z.B. Familienberatung, Ernährungsberatung, Schulnerberatung usw.) (Ayerle und Sadowski 2007).
Aufklärung, Vermittlung und Begleitung zu weiterführenden Diensten wie Jugendamt, Erziehungsberatungsstellen, Sozialamt, Schwangerschafts-beratungsstellen, Arzt- und psychologische Praxen sollen eine optimale Unterstützung der Familien und Kinder sicherstellen. Die Familienhebammen arbeiten deshalb eng mit allen in Frage kommenden Institutionen und medizinischen Diensten sowie karitativen Einrichtungen zusammen.