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Aktiv für Gesundheit und Chancengleichheit

Nicht Anklage der, sondern Anleitung zur Klassenmedizin

Alf Trojan , Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
03.09.2014

Alf Trojan bespricht Bernd Kalvelages "Klassenmedizin. Plädoyer für eine soziale Reformation der Heilkunst."


Kalvelage, Bernd: Klassenmedizin. Plä­do­yer für ei­ne soziale Re­for­ma­ti­on der Heilkunst. SpringerMedizin, Ber­lin Heidelberg 2014. ISBN 978-3-642-54749-2

Verfasser der Buchrezension ist Prof. Dr. Dr. Alf Trojan, ehemaliger Di­rek­tor des Instituts für Medizin-Soziologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Ge­sund­heit­liche Chancenungleichheit in ei­nem be­nach­tei­lig­ten Hamburger Stadt­vier­tel, deren bewusste Wahr­neh­mung und Re­du­zie­rung, ist der Aus­gangs­punkt die­ses Buches.

Beim Ti­tel dachte ichzuerst an ei­ne An­kla­ge der Zwei- oder Mehr-Klassenmedizin (zu­mal auch ein rotes Stopp­schild über dem Wort steht). Angeklagt wird zwar auch in dem Buch, aber das Besondere, das pro­vo­ka­tiv Neue ist die positive Wen­dung des Begriffs: nicht An­kla­ge der, son­dern An­lei­tung zur Klassenmedizin ist der Inhalt des Buches! Mit den Worten des Autors (S. 16):

„Klassenmedizin ist nicht ‘Medizin light‘, sie komplettiert die ärztliche Be­hand­lung zu ei­ner Heilkunst, die den Na­men ‘Kunst‘ verdient. Sie hat nicht weniger anzubieten, son­dern mehr, sie gestaltet ih­re An­ge­bo­te an­ders, sie steht für ei­ne Heilkunde, die verfügbare Fä­hig­keit­en, Er­fah­rung­en und Techniken aus Psychologie, Psy­cho­the­ra­pie, Verhaltensmedizin, So­zi­al­ar­beit anwendet und die Em­pa­thie und ge­sun­den Menschenverstand in Verbindung mit erstklassigem medizinischen Wissen und Können in ih­re The­ra­pie in­te­griert: ei­ne ‘in­te­grierte Medizin‘ im psychosomatischen Sinne al­so, die leistet, was ihr Ad­jek­tiv verspricht.“

Klassenmedizin als „schichtsensible Heilkunst“

Klassenmedizin ist „ei­ne schichtsensible Heilkunst“. Das „Soziale“ solle in der Me­di­zin gleich-wertig Be­rück­sich­ti­gung finden- im Sinne ei­ner seit langem geforderten, aber in der Pra­xis kon­stant vernachlässigten Sozio-Psycho-So­matik. Wie ei­ne Re­for­ma­ti­on der Me­di­zin in Rich­tung ei­ner „Kunst des Heilens“ (Lown) mit Blick auf den Drei­klang von „So­ma, See­le und Sozialem“ aus­se­hen könnte und müsste, das wird in neun Kapiteln und ei­nem ergänzenden Pro­gramm „wi­der die Kom­mer­zi­a­li­sie­rung der Me­di­zin“ in dem Buch auf spannende, teil­wei­se kurzweilige und vor allem erfahrungsgesättigte Wei­se dargestellt bzw. bes­ser: dem Le­ser und der Le­se­rin ans Herz gelegt. Dass dies über­zeu­gend gelingt, liegt ei­ner­seits an dem durch umfassende Be­le­sen­heit und Sprachkreativität er­fri­schend journalistischen Stil des Buches, mehr noch aber an der Au­then­ti­zi­tät der zahlreichen Fallgeschichten, die der Au­tor in über 25 Jahren fachärztlicher Tä­tig­keit in ei­ner Ge­mein­schafts­pra­xis für Innere Me­di­zin/Diabetologie im Hamburger Stadt­teil Wilhelmsburg ge­sam­melt hat, in engagierter harter Ar­beit in ei­nem der bun­des­weit bekanntesten „sozialen Brennpunkte“ bzw. „Stadt­teile mit besonderem Entwicklungsbedarf“.

Diese Fundierung aus jahrelanger medizinischer Pra­xis wird an vielen Stel­len des Buches theoretisch reflektiert und eingeordnet. Pi­erre Bourdieus gesellschaftliche Ana­ly­se, „Die fei­nen Un­ter­schiede“ wird nicht nur wie­der­holt zitiert, son­dern das Sozial-Distinktive wird im An­satz ähn­lich ak­ri­bisch aus dem Alltagsbanalen des Me­di­zinbetriebs herausgearbeitet.

Der Au­tor lässt kei­ne Berührungsängste zur „Un­ter­schicht“ unserer Ge­sell­schaft er­ken­nen, die er auch so nennt. Allerdings tau­chen bei ihm kei­ne „Un­ter­schichtmenschen“ auf, son­dern „Patienten oder Menschen aus der Un­ter­schicht“, die in Kasuistiken re­spekt­voll mit ihren Nöten, Konflikten, Schwä­chen und ihren Stär­ken (Res­sour­cen) - durch­aus liebevoll - beschrieben wer­den.

Das Originelle die­ses Buches ist der gelungene Versuch, die Be­din­gung­en kon­kret zu be­schrei­ben, die für das vorzeitige Sterben und die ungünstige Krankheitsprognose von Menschen aus der Un­ter­schicht verantwortlich sind.

Dazu postuliert der Au­tor:

1. Die üblichen Definitionskriterien des Sozioökonomischen Sta­tus (=SES: Be­ruf, Einkommen, Bil­dung) seien un­ge­eig­net und nur schwach verknüpft mit der nachweisbaren mangelnden Gesundheitskompetenz in der Un­ter­schicht und deren Fol­gen.

2. Das „Vermögen“ - im doppelten Sinn des Wortes - sei ent­schei­dend (und das be­legt er mit zahlreichen Kasuistiken): so­wohl das einkommens-unabhängige materielle Sicherheitspolster inkl. fördernder sozialer Beziehungen - oder deren Fehlen, wie auch das (erlernbare - oder oft eben nicht vermittelte) Eigen-Vermögen, sei­ne An­ge­le­gen­heit­en selbst er­folg­reich re­geln zu kön­nen. („Selbstwirksamkeitserfahrung“, Bandura).

Dieser Ge­dan­ke verdiene es, stärker als bis­her in der medizinsoziologischen For­schung berücksichtigt zu wer­den, ob­wohl, nein, weil die Kriterien der Selbstwirksamkeit schwerer zu stan­dar­di­sie­ren und zu eruieren sind im Vergleich zu Einkommen etc.

An­re­gung­en aus der Lernpädagogik

Kalvelage beruft sich auf ei­nen in sei­nen Au­gen vorbildlichen wissenschaftlichen An­satz, den er aus der Lernpädagogik entnimmt: Hattie (2013) habe in ei­ner spektakulären, großen Metastudie u.a. herausgefunden, dass der Lernerfolg von Schü­le­rin­nen und Schülern hauptsächlich von der Person des Lehrers/der Leh­re­rin abhängt. Kalvelage schlussfolgert: mehr als auf Leit­li­nien (die soziale Aspekte oft vermissen ließen) und als auf spezielles Fach-Wissenkomme es auf die Person des Arztes/der Ärz­tin an bei der För­de­rung der Selbstwirksamkeitserfahrung von Pa­ti­en­tin­nen und Patienten aus der Un­ter­schicht. Die „Droge Arzt“ (Balint) könne hier ei­ne besondere, bis­her meist unterdosierte Heilkraft ent­fal­ten.

Bei Hattie findet er ei­ne weitere Ana­lo­gie zur Klassenmedizin: Interessanterweise seinach Hattie der SES des Elternhauses beim Lernerfolg der Kinder wich­tig, aber weniger ent­schei­dend als der SES der Schule. Kalvelage folgert: Gut ausgestattete, exzellente Praxen und Krankenhäuser seien in den Stadt- und Landesteilen mit niedrigem SES dem­nach - auch an­ge­sichts der aktuellen Verteilungsrealitäten und -anreize - ge­mäß sei­nem Verständnis von Klassenmedizin drin­gend zu for­dern und zu för­dern.

DasVerdienst die­ses Buches ist in jedem Fall, nicht bei der oft hilflos achselzuckenden Be­schrei­bung vonChancenungleichheiten im Krankheitsfallstehenzubleiben, son­dern es kommt zu kon­kreten Hand­lungs­empfeh­lun­gen, die im­mer wie­der kon­kret aufgezeigt wer­den.

Die Ka­pi­tel im Überblick

Wie gern würde ich aus­führ­lich und kapitelweise Neu­gier auf das Buch wecken! Jedes Ka­pi­tel ist nämlich für sich ein­zig­ar­tig: die sehr per­sön­liche Selbstreflexion über „gutes“ Arztsein und Menschbleiben (Ka­pi­tel 2; Ka­pi­tel 3 di­rekt an Stu­die­ren­de gerichtet), die argumentations- und faktenreiche Aus­ei­nan­der­set­zung über „Preis, Wert und Wür­de“ in der ambulanten K(l)assenmedizin (Ka­pi­tel 4) so­wie die Fol­gen von Hierarchie und dem Pri­mat der Öko­no­mie im Krankenhaus (Ka­pi­tel 5), die un­ge­heu­er facettenreiche Be­hand­lung von (meist der Un­ter­schicht angehörigen) Pa­ti­en­tin­nen und Patienten mit Migrationshintergrund und die prekäre Krankenversorgung von Flüchtlingen (Ka­pi­tel 6), die auf den ersten Blick will­kür­lich erscheinenden Zuschreibungen von „Chronifizierungen“:des Lebens, aber auch die so­zi­aler La­gen, des Arztseins und des Krankseins, der Ge­sund­heit (Ka­pi­tel 7), das eigen-„ge­setz­lich“ erscheinende Scheitern der 23 „Ge­sund­heitsreformen“ in den letzten 23 Jahren (Ka­pi­tel 8) und die zusammenfassenden und zur gesellschaftlichen De­bat­te einladenden The­sen zur „Re­for­ma­ti­on der Heilkunst“ im Sinne der titelgebenden „Klassen(sensiblen)medizin“ (Ka­pi­tel 9).

Ein „Lehr­buch“ (S.VII) im besten Sinne wird diese ärztliche Lebensbilanz ge­wiss für jeden sein, der sich auf das eben­so parteiische wie differenzierte und selbstkritische Werk einlässt! Zu wün­schen wä­re, dass es auch in der Aus­bil­dung heutiger Medizinstudierender seinen fes­ten Platz bekommt: Ein Lehr­buch, das der Per­spek­ti­ve des Patienten mit So­ma, See­le und Sozialem so per­sön­lich und so po­li­tisch Gel­tung verschafft, wie es Bernd Kalvelage tut, hat bis­her gefehlt! Auch für Ge­sund­heitsförderer, die so­zi­al bedingte ge­sund­heit­liche Chancenungleichheit be­kämp­fen wol­len, liefert das Buch viel An­schau­ungs­ma­te­ri­al zum bes­seren Verständnis ihrer Ziel­grup­pen und zahlreiche An­re­gung­en, sie bes­ser zu er­rei­chen.

Eine stark gekürzte Version dieser Besprechung erscheint voraussichtlich im Oktober 2014 im Hamburger Ärzteblatt.

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  • Berlin

    Engagiert. Inklusiv. Ankommen.

    Kulturelle Teilhabe und freiwilliges Engagement als Schlüssel zur Integration für Menschen mit Fluchtgeschichte und Behinderung

    Der Verein KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V. richtet im Rahmen der Veranstaltungen zum 15-jährigen Vereinsjubiläum den Fachtag "Engagiert. Inklusiv. Ankommen: Kulturelle Teilhabe und freiwilliges Engagement als Schlüssel zur Integration für Menschen mit Fluchtgeschichte und Behinderung" aus. Die Veranstaltung bringt internationale Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik, Kultur und Zivilgesellschaft zusammen, ebenso wie Akteur*innen aus Initiativen, Selbstorganisationen und migrantischen Communities. Ziel ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse mit Praxiserfahrungen zu verknüpfen und tragfähige Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Ein zentrales Thema des Fachtags ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte und Behinderung.

    Neben Fachvorträgen und Impulsen im Plenum werden auch fünf parallel stattfindende Workshops für kleinere Diskussionsrunden angeboten. Das Programm des Fachtages, weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier.

    Kategorie: Fachtagung
    Veranstalter: KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V.
  • Berlin

    Gesundheitsziele Konferenz 2025: Health in All Policies - Kooperation als Erfolgsfaktor

    Am 8. Dezember 2025 laden wir Sie herzlich in die Landesvertretung Brandenburg in Berlin ein, um gemeinsam die Zukunft der Präventionslandschaft in Deutschland zu gestalten. Die Konferenz bringt wichtige Akteur*innen aus Politik, Wissenschaft und Praxis zusammen, um neue Impulse für eine stärkere Verankerung von Gesundheit in allen Politikbereichen zu setzen. Dazu hält Ilka Wölfle (DSV Europa) einen Impuls zum Health in All Policies Ansatz im internationalen Vergleich. Außerdem wird der "Public Health Index - Gesundheitsschutz im internationalen Vergleich" des AOK-Bundesverbandes vorgestellt. Den Höhepunkt der Veranstaltung bildet die Podiumsdiskussion mit hochkarätigen Gäst*innen zur Zukunft der Präventionslandschaft in Deutschland. 

    Zudem erhalten Sie Einblicke in die aktuellen Arbeitsschwerpunkte des Forums Gesundheitsziele zu den Themen Einsamkeit, Gesundheit rund um die Geburt und die Aktualisierung der bisherigen Gesundheitsziele. Die Veranstaltung klingt bei einem Get-Together mit leichtem Catering aus und bietet Raum für Vernetzung und vertiefende Gespräche.

    Den Link zur Anmeldung finden Sie hier .

    Veranstalter: GVG e.V.
  • Hannover

    Wohl.Fühlen in herausfordernden Zeiten

    Präventionsimpulse für die teil- und vollstationäre Pflege

    Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und neuer gesundheitlicher Herausforderungen gewinnen Gesundheitsförderung und Prävention in Pflegeeinrichtungen mehr denn je an Bedeutung. Sie tragen dazu bei, die Lebensqualität der pflegebedürftigen Menschen zu verbessern, ihre Selbstständigkeit zu erhalten, den Pflegebedarf zu reduzieren und können das Gesundheitssystem entlasten.

    Im Mittelpunkt der Fachtagung stehen innovative Ansätze für Prävention und Gesundheitsförderung in der teil- und vollstationären Pflege. Freuen Sie sich auf praxisnahe Impulse und interaktive Workshops zu aktuellen Themen wie Selbstfürsorge und Stressmanagement im Pflegealltag sowie den gesundheitlichen Folgen des Klimawandels und Nachhaltigkeit. Weitere Schwerpunkte sind Ernährung, Gewaltprävention, Bewegung und die Stärkung des psychosozialen Wohlbefindens.

    Eingeladen sind Pflege- und Betreuungskräfte, Leitungs- und Führungskräfte, Praxisanleitende, Auszubildende, Studierende, Träger und alle weiteren Interessierten.

    Die Veranstaltung bildet den Abschluss des Projekts Wohl.Fühlen – Klima und Gesundheit, einer Kooperation der LVG & AFS, der BARMER und der Hochschule Hannover.

    Kategorie: Veranstaltung
    Veranstalter: Landesvereinigung für Gesundheit und Alademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V.

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