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12.09.2014

"Vorbeugung funktioniert und Vorbeugung lohnt sich"

Zwischenbilanz nach zwei Jahren "Kein Kind zurücklassen - Kommunen in NRW beugen vor"

Nancy Ehlert, bis März 2017: Gesundheit Berlin-Brandenburg
Hanna Münstermann, Bertelsmann Stiftung

Schlagwörter:Evaluation, Kindesentwicklung, Kommunen, Netzwerk, Präventionsketten

Das Modellvorhaben „Kein Kind zu­rück­las­sen! - Kom­mu­nen in NRW beu­gen vor“ wird in Ko­o­pe­ra­ti­on der Lan­des­re­gie­rung Nordrhein-Westfalen mit der Bertelsmann Stif­tung seit 2012 ge­tra­gen und in 18 Kom­mu­nen des Landes durchgeführt. Ziel ist es, lückenlose kommunale Präventionsketten aufzubauen - von der Schwan­ger­schaft bis zum Ein­tritt ins Be­rufs­le­ben.

Unter dem Ti­tel „Vorbeugung funktioniert - Zwei Jahre Er­fah­rung­en aus dem Modellvorhaben 'Kein Kind zu­rück­las­sen!'" wurde am 29.8.2014 in Oberhausen Bi­lanz gezogen. Wie ei­ne gut auf­ei­nan­der abgestimmte, kommunale Präventionskette aus­se­hen kann, zeigten die 18 Modellkommunen im Rahmen ei­ner Aus­stel­lung. Die vorgestellte Ar­beit der vergangenen Jahre soll im Folgenden in Form ei­nes Sachstandes der drei Baustei­ne des Modellvorhabens Lernnetzwerk, Trans­fer und Eva­lu­a­ti­on in den Blick genommen wer­den.

Erster Bau­stein: Lernnetzwerk

Im Lernnetzwerk sollen durch Be­ra­tung und Fort­bil­dung die Handlungsmöglichkeiten der teilnehmenden Kom­mu­nen erweitert wer­den so­wie ein Erfahrungs- und Wissensaustausch mit den vernetzten Kom­mu­nen und mit der Lan­des­ebe­ne geschaffen wer­den.

Pro Jahr sind vier Lernnetzwerktreffen gestaltet worden. Die Teilnehmenden tauschten sich da­rü­ber aus, wie ne­ben dem Jugendhilfebereich Zugänge zu und Kooperationen mit weiteren Prä­ven­ti­onsbereichen wie Ge­sund­heits­för­de­rung, so­zi­ale Si­che­rung und ganztägige Bil­dung verbessert wer­den kön­nen. Außerdem wurde da­rü­ber diskutiert, wel­che Auf­ga­ben die örtlichen Ko­or­di­na­to­rin­nen und Koordinatoren im kommunalen Netzwerkmanagement haben und wel­che Be­deu­tung der Sozialraumorientierung in ei­ner gesamtkommunalen Prä­ven­ti­onskette zukommt.

In vier zentralen Themenclustern ar­bei­ten al­le Modellkommunen mit:  

  1. Im Themencluster „Übergangsmanagement“ wer­den Übergänge ana­log des projektimmanenten Paradigmenwechsels „vom Kind her ge­dacht“ und nicht pri­mär von den Schnittstellenproblemen der Institutionen aus fokussiert. Thematisiert wer­den Übergänge, bei de­nen sich a) der Akteurskreis für das Kind verändert, d.h. bei de­nen es zu Wechseln von Bezugspersonen, Peers, Fachkräften etc. kommt und/oder die b) potentiell so­zi­ale Se­lek­ti­vi­tät be­för­dern. Im Themencluster wird besprochen, wie so­zi­alen Selektionsprozessen an den Übergängen aktiv entgegengewirkt und Chan­cengerechtigkeit für Fa­mi­lien, Kinder und Ju­gend­li­che mit heterogenen Voraussetzungen biografieorientiert befördert wer­den kann. Hierfür müs­sen Übergänge in Zeitkorridoren statt in diskontinuierlichen Wechseln konzipiert wer­den, was u.a. durch gemeinsame Vorfeldarbeit der abgebenden und aufnehmenden ge­lin­gen kann. Zudem soll ei­ne bessere Ko­or­di­na­ti­on bei der Konzipierung und Nut­zung in­di­vi­du­eller Entwicklungsdokumentationen, Eingangstests etc. erzielt wer­den.
  2. Im Themencluster „Innovative Finanzierungsmodelle“ wird Prä­ven­ti­on als strategische kommunale Ent­schei­dung fokussiert, die auch bei haushaltsaufsichtlichen Restriktionen und un­ter den generellen Rah­men­be­din­gung­en von leistungsrechtlicher Fragmentierung und Trägervielfalt durchzuhalten ist. In diesem Kon­text geht es da­rum Fachcontrolling und finanzwirtschaftliche Haushaltsziele der Kom­mu­nen mit­ei­nan­der zu vereinbaren. Als Klam­mer zwi­schen beiden Schwerpunkten wurde die Zugangssteuerung zu Hilfen aus­ge­macht. An die­ser Schnittstelle ent­ste­hen im Negativfall so­zi­al selektive In­an­spruch­nah­men, institutionelle Selbstbeschaffungseffekte und ineffektive und ineffiziente Settings. Als ei­nen neuralgischen Punkt hat das Themencluster elternstärkende Maß­nah­men, die im Vorfeld zu hochschwelligen Hilfen wie Heimun­terbringung oder kostenintensiven Hilfen zur Er­zie­hung an­set­zen, identifiziert.
  3. Zivilgesellschaftliche Ein­bin­dung kann die kommunale Prä­ven­ti­onsarbeit sinn­voll er­gän­zen und wei­ter­ent­wi­ckeln. Das Themencluster „Ein­bin­dung der Zivilgesellschaft“ hat sich bis­her mit möglichen Wirkungsbereichen von zivilgesellschaftlicher Ein­bin­dung, zu beteiligenden Ziel­grup­pen, handelnden Fachkräften und mit not­wen­digen Rah­men­be­din­gung­en zur zivilgesellschaftlichen Ein­bin­dung beschäftigt. Hier wurde deut­lich, dass ei­ne übergeordnete Stra­te­gie zur Beteiligung in der Kom­mu­ne not­wen­dig ist, da­mit al­le lokalen Akteure und Institutionen am glei­chen Strang zie­hen und ei­ne gute Qua­li­tät gewährleistet ist. Die Ein­bin­dung verschiedenster gesellschaftlicher Grup­pen - auch die s.g. „schwer Erreichbaren“ - kann durch in­di­vi­du­ell zugeschnittene Konzepte er­mög­licht wer­den. Kon­sens besteht da­rü­ber, dass Eh­ren­amt die fachliche Ar­beit auf kei­nen Fall er­set­zen, aber sinn­voll er­gän­zen kann. In der folgenden Sitzungsperiode wer­den bis­her erbarbeitete Ziele und Ideen mit konkreten Umsetzungsvorschlägen ergänzt, die Impulsgeber für weitere Kom­mu­nen sein kön­nen.
  4. Hintergrund des Themenclusters „Sozialraummanagement“ sind die zunehmende so­zi­ale Un­gleich­heit und die da­mit verbunde­nen un­terschiedlichen Lebensverhältnisse, die Aus­wir­kung­en auf Stadtteile und Quartiere der Kom­mu­nen haben. Obwohl Soziale Se­gre­ga­ti­on als Phä­no­men moderner Gesellschaften auf kommunaler Ebe­ne nicht ge­löst wer­den kann, ste­hen die Kom­mu­nen in der Verantwortung, die Chan­cen für ge­lin­gendes Aufwachsen von Kin­dern und Ju­gend­li­chen zu verbessern und Lebensräume aufzuwerten. Das Themencluster beschäftigt sich mit un­terschiedlichen Fa­cet­ten, die für ei­ne kleinräumige Pla­nung, für lebenswelt- und zielgruppenorientierte Angebotsgestaltung und für so­zi­alräumliche Netzwerksteuerung wich­tig sind.

Zweiter Bau­stein: Wissenstransfer

Der Transfer umfasst Fachveranstaltungen, Publikationen, die Aufbereitung guter Praxis sowie die Webseite von „Kein Kind zurücklassen!“.

Seit 2012 haben drei große Ver­an­stal­tung­en zu „Kein Kind zu­rück­las­sen!“ stattgefunden:

  • Das Aus­tauschtreffen „Mit Eltern“ beschäftigte sich mit Wegen einer frühzeitigen und vertrauensvollen Zu­sam­men­ar­beit mit Eltern.
  • Die Ver­an­stal­tung „Mit Unternehmen“ befasste sich mit Chan­cen und Gren­zen der Ein­bin­dung lokaler Unternehmen in das Präventionsnetzwerk.
  • Die Ta­gung „Ganztag prä­ven­tiv“ hatte Vernetzung mit und in Ganz­tags­schu­len zum The­ma.

Die Fachveranstaltungen bie­ten Ge­le­gen­heit zum Aus­tausch über gute Pra­xis zwi­schen den Modellkommunen und da­rü­ber hinaus. Die Teil­nah­me steht ex­pli­zit auch kommunalen Akteuren au­ßer­halb des Modellvorhabens of­fen. Bundesweite und punk­tu­ell auch internationale Forschungs- und Pra­xiserfahrungen wer­den nutz­bar gemacht. Die nächste Fachveranstaltung findet am 19. Fe­bru­ar 2015 zum The­ma „Ge­sund­heits­för­de­rung als Teil der Präventionskette“ statt. .

Fachmagazine und -berichte in­for­mie­ren über den Sachstand im Modellvorhaben und die Präventionsarbeit in den Kom­mu­nen. Zwei Publikationen sind in den Jahren 2013 und 2014 be­reits erschienen und ste­hen u.a. auf der Projektwebsite als Down­load zur Verfügung.

Die Website www.kein-kind-zuruecklassen.de ist ein zentrales Kommunikations- und Informationsinstrument des Modellvorhabens. Sie informiert über Aktuelles aus den Kom­mu­nen, qualitätsgeprüfte An­ge­bo­te aus der Präventionsarbeit und stellt re­gel­mä­ßig Lesetipps so­wie aktuelle Termin- und Veranstaltungshinweise be­reit.

Von großem In­te­res­se für den Wissenstransfer sind die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Be­glei­tung. Die Ergebnisse wer­den 2015 vorliegen. Bis da­hin wer­den erste (Zwischen-)Ergebnisse in Form von Werkstattberichten vorgestellt und diskutiert. Zwei Berichte sind be­reits erschienen. Down­load un­ter: https://www.kein-kind-zuruecklassen.de/modellvorhaben/evaluation/publikationen-und-infomaterial.html

Ein Er­fah­rungs­aus­tausch findet auch über die Programmgrenze hinaus mit anderen Projekten, wie bei­spiels­wei­se dem LVR-Programm „Teil­ha­be ermöglichen - Kommunale Netzwerke ge­gen Kinderarmut“, statt.  

Dritter Bau­stein: wissenschaftliche Begleitforschung

Die Begleitforschung untersucht, wel­che Wir­kungs­wei­se kommunale Präventionsketten haben und wie diese optimiert wer­den kön­nen. Gearbeitet wird in ei­ner Mehrebenen- und Mehrmethodenanalyse.

Eine Verwaltungsstudie untersucht, ob bestimmte Formen der Verwaltungsorganisation und Netzwerksteuerung ei­nen Un­ter­schied für die kommunale Präventionsarbeit ma­chen und wel­che Konsequenzen sich aus der Un­ter­schied­lich­keit er­ge­ben kön­nen.

Präventive An­ge­bo­te kön­nen nur dann den All­tag von Fa­mi­lien positiv be­ein­flus­sen, wenn sie in An­spruch genommen und als hilfreich empfunden wer­den. Der Pro­zess der In­an­spruch­nah­me durch Fa­mi­lien so­wie Kinder und Ju­gend­li­che wird durch ei­ne schriftliche Be­fra­gung und in qualitativen Interviews mit Eltern untersucht. Ziel ist es herauszufinden, wel­che Faktoren die In­an­spruch­nah­me von An­ge­bo­ten so­wie deren Um­set­zung und Wirk­sam­keit im Fa­mi­lienalltag begünstigt.

Um die Kom­mu­nen auch über die Dau­er des Modellvorhabens hinaus in die La­ge zu versetzen, Wir­kungszusammenhänge selbst un­ter­su­chen zu kön­nen, wer­den in ei­ner sogenannten Mikrodatenanalyse Instrumente entwickelt, die der systematischen Er­schlie­ßung und Ana­ly­se von Da­ten, die im Verwaltungsprozess produziert wer­den (Quellen sind z.B. die Schuleingangsuntersuchungen und die SGB II-Statistik), die­nen. Hiermit lassen sich zum Beispiel die Ent­wick­lung von Kin­dern im Vorschulalter, die sie be­ein­flus­senden internen und externen Res­sour­cen in den Fa­mi­lien und um sie herum, die In­an­spruch­nah­me kommunaler Präventionsangebote und ih­re möglichen Wir­kung­en über die Zeit ab­bil­den. Eine solche Mikrodatenanalyse er­mög­licht es Kom­mu­nen, datengestützt Standortentscheidungen, z.B. über die La­ge von Fa­mi­lienzentren, Brennpunkt-Kitas, Beratungsangeboten oder die Öff­nung von Schulen in den Stadt­teil, zu tref­fen. Bisher endet diese Ana­ly­se mit dem Ein­tritt der Kinder in die Grund­schu­le. Um Aus­sa­gen über Ent­wick­lung­en im Lebensverlauf tref­fen zu kön­nen, ist eins der Ziele die­ses Moduls, zu­min­dest für ei­ne klei­ne Aus­wahl an Modellkommunen auch mit vorhandenen Schülerindividualdaten rech­nen zu kön­nen. Damit ließen sich die Ent­wick­lung von Kin­dern und die Wir­kung präventiver An­ge­bo­te über die Zeit verfolgen. Die Wir­kungsanalyse mit Mikrodaten liefert auch die Grund­la­ge für ei­ne Verbesserung von Indikatoren ei­ner kommunalen und kleinräumigen Be­richt­er­stat­tung in Form ei­nes Monitorings. Hier wird untersucht, wer von präventiven Leis­tung­en be­son­ders profitieren kann, und es wer­den Indikatoren zur Beobachtung langfristigen der Outcomes von Präventionsarbeit entwickelt.

Auch im Hinblick auf fiskalische Effekte wird die Wir­kung kommunaler Präventionsketten untersucht. Gefragt wird, wel­che sozialen Kosten durch die Fehl­ent­wick­lung bei Kin­dern und Ju­gend­li­chen ent­ste­hen, wel­che Aufwände durch den Auf- bzw. Aus­bau von kommunalen Präventionsketten an­fal­len und wel­che ins­be­son­de­re finanziellen Ent­las­tung­en bzw. Erträge für die öffentlichen Haushalte da­durch zu er­war­ten sind.

Die Gesamtevaluation soll 2015 vorliegen. Die Begleitforschung soll ei­nen Bei­trag da­zu leis­ten, Handlungswissen zu ge­ne­rie­ren, um Fa­mi­lien, Kinder und Ju­gend­li­che gezielter und wirksamer zu un­ter­stüt­zen.

Fa­zit und Ausblick

In der bisherigen Modellphase haben sich meh­re­re Voraussetzungen für wirkungsvolle Prä­ven­ti­on herauskristallisiert:

  1. Vorbeugung funktioniert, wenn sie von der kommunalen Spitze ausgeht und als handlungsleitende Steu­e­rungsmaxime vom mittleren Ma­nage­ment ge­tra­gen wird.
  2. Vorbeugung funktioniert, wenn die Qua­li­tät prä­ven­tiver An­ge­bo­te stimmt.
  3. Vorbeugung funktioniert, wenn sie verstärkt an Regeleinrichtungen angedockt wird.
  4. Vorbeugung funktioniert, wenn al­le vom Kind aus den­ken.
  5. Vorbeugung funktioniert, wenn sie in staat­lich kommunaler Verantwortungsgemeinschaft ge­tra­gen wird.
  6. Vorbeugung funktioniert, wenn prä­ven­tiv wirkende An­ge­bo­te von Fa­mi­lien und Kin­dern in An­spruch genommen wer­den kön­nen.

Kom­mu­nen, in de­nen diese Rah­men­be­din­gung­en ge­ge­ben sind, zeichnen sich durch klare Steu­e­rungs- und Koordinierungsstrukturen und ein kooperatives Kli­ma aus. Hier gelingt es bei­spiels­wei­se häufiger, Paral­lelstrukturen zusammenzuführen.

Einige Modellkommunen bli­cken auf langjährige Er­fah­rung­en in der Prä­ven­ti­onsarbeit zu­rück, an­de­re haben mit dem Ein­stieg in das Modellvorhaben erst mit der Ar­beit begonnen. Schwer­punkt der nächsten Pha­se wird es da­her sein, die guten Ansätze prä­ven­tiver Ar­beit im Sinne einer wirkungsorientierten Steu­e­rung der gesamten Prä­ven­ti­onskette wei­ter zu ent­wi­ckeln.

Bereits heute lässt sich fest­hal­ten: „Vorbeugung funktioniert und Vorbeugung lohnt sich", so die positive Ein­schät­zung der Mi­nis­ter­prä­si­den­tin Hannelore Kraft auf der Ver­an­stal­tung zur Zwi­schen­bi­lanz zu „Kein Kind zu­rück­las­sen!“. Dr. Bri­git­te Mohn, Mit­glied des Vorstands der Bertelsmann-Stif­tung, ergänzt: „Wir wol­len sozialen Fehl­ent­wick­lung­en vorbeugen. Lassen Sie uns ge­mein­sam da­ran wei­ter­ar­bei­ten, evidenzbasiertes Handlungswissen zu ge­ne­rie­ren, um Kinder und deren Fa­mi­lien noch gezielter und wirksamer un­ter­stüt­zen zu kön­nen.“

Materialien und Links

Wir danken Dr. Johannes Schütte von der Landeskoordinierungsstelle des Modellvorhabens „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“ für die Unterstützung.

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