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08.01.2013

Jugendarmut in Deutschland

Michael Rölver, Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit

Schlagwörter:Armut, Bildung, Diskriminierung, Eltern, Teilhabe

Jugendarmut ist ein drängendes Problem in Deutsch­land. Jun­ge Er­wach­se­ne sind die am stärksten von Ar­mut betroffene Altergruppe in Deutsch­land. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Ju­gend­so­zial­ar­beit (BAG KJS) e.V. hat es sich zur Auf­ga­be gemacht, für das The­ma Jugendarmut zu sen­si­bi­li­sie­ren. Mehr als 20 % der 18-24 Jährigen lebt in Deutsch­land in Ar­mut. Nicht nur die ma­te­rielle Ar­mut bei Ju­gend­li­chen hat Aus­wir­kung­en auf ih­re Lebens- und Entwicklungschancen. Ar­mut un­ter Ju­gend­li­chen nimmt Ein­fluss auf al­le Lebensbereiche, wie z. B. Ge­sund­heit, Bil­dung und Ge­stal­tung des Über­gangs von der Schule in den Be­ruf bzw. die Be­rufs­aus­bil­dung. Die BAG KJS ver­stehen un­ter Ju­gend­ar­mut folg­lich nicht nur materielle Ar­mut, son­dern ein Zusammentreffen von Un­ter­ver­sor­gungs­lagen und sozialen Be­nach­tei­li­gung­en; dies schließt emotionale, soziale und kul­tu­rel­le Ar­mut ein.

Die Mitgliedsorganisationen BDKJ, Deutscher Ca­ri­tasverband, Kol­ping­werk Deutsch­land, Sa­le­si­a­ner Don Bos­co, Sozialdienst Kath. Frauen, IN VIA Kath. Mädchen- und Frauensozialarbeit, Kath AG Mi­gra­ti­on, Verband der Kolpinghäuser so­wie die acht Landesarbeitsgemeinschaften, engagierten sich zu­dem mit eigenen Ver­an­stal­tung­en und leisteten ih­re je­weils spezifischen Beiträge zum Gelingen der In­iti­a­ti­ve. Das En­ga­ge­ment ge­gen Jugendarmut wurde so­mit auch zu einem identifikationsstiftenden Leit­the­ma der Jugendsozialarbeit in der katholischen Trä­ger­schaft.

Im Rahmen der In­iti­a­ti­ve „Ju­gend(ar)mut“ möchten die BAG KJS vielfältige Impulse für ein ent­schie­de­nes En­ga­ge­ment ge­gen Ju­gendarmut set­zen. Ziel ist es, Ju­gendarmut zu the­ma­ti­sie­ren und zur ihrer Verringerung beizutragen. Der Monitor Ju­gendarmut in Deutsch­land 2012 stellt bei­spiels­wei­se wichtige Fakten auf­schluss­reich zu­sam­men. Er kann über die Website der In­iti­a­ti­ve www.ju­gend­ar­mut.info kos­ten­los herunter ge­la­den oder bestellt wer­den.

Im Folgenden wer­den ei­ni­ge Informationen zum The­ma Jugendarmut dargestellt und durch Fakten aus dem Monitor Jugendarmut in Deutsch­land 2012 erläutert.

Messbare Armut

Laut EU gilt als armutsgefährdet, wer in einem Haushalt lebt, des­sen Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Pro­zent des Medians der Einkommen in der gesamten Be­völ­ke­rung beträgt.

Der Wert, der ge­nau in der Mit­te einer Datenverteilung liegt, nennt sich Median. Im Vergleich zum Durch­schnitt ist der Median robuster, weil ausreißende Werte nicht so ins Ge­wicht schla­gen. Wür­de man beim Einkommen den Durch­schnitt bil­den, so würden höhere Einkommen un­ver­hält­nis­mä­ßig stark ins Ge­wicht fallen. Das Äquivalenzeinkommen ist ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haus­haltsmitglied, das ermittelt wird, in­dem das Haus­halts­net­toeinkommen durch die Sum­me der Be­darfs­gewichte der im Haushalt lebenden Personen ge­teilt wird.

Wer weniger Geld zur Verfügung hat, ist in seiner gesellschaftlichen und soziokulturellen Teil­ha­be fi­nan­zi­ell eingeschränkt. Der Kinobesuch oder der Sommerurlaub sind so oft­mals nur schwer zu fi­nan­zie­ren. Ein Blick auf die Ent­wick­lung des Ar­mutsrisikos zeigt, Jugendarmut ist ein wachsendes Problem. Auch Transferleistungen wie das Ar­beits­lo­sen­geld II (Hartz IV) verhindern Jugendarmut nur be­dingt. Nach der Aus­zah­lung der So­zi­al­leis­tun­gen sind im­mer noch über 20 Pro­zent der jun­gen Menschen von Ar­mut bedroht.

Unsichtbare Armut

Jugendarmut ist oft nicht sichtbar. Finanzielle Ar­mut ist zwar mess­bar, aber sie ist mit Scham be­haf­tet und wird nicht nach au­ßen ge­tra­gen. Geht es in den Me­di­en um junge Menschen in schwierigen Le­bens­si­tua­tio­nen so ste­hen Gewalttaten oder ein angebliches Des­in­te­res­se der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on im Zen­trum der Be­richt­er­stat­tung. Vergessen wer­den da­bei oft die problematischen Be­din­gung­en des Auf­wachsens.

In Wür­de an­ge­nom­men sein, ist ei­ne Er­fah­rung, die viele Ju­gend­li­che zu sel­ten oder noch nie er­lebt ha­ben. An­er­ken­nung, Ge­bor­gen­heit und Zu­wen­dung sind zentrale Bestandteile für die Ent­wick­lung ei­ner selbstbewussten, eigenständigen Per­sön­lich­keit. Deren Man­gel so­wie das Fehlen von verlässlichen Be­zugspersonen sind weitere Fa­cet­ten von Armutserfahrungen junger Menschen. Ju­gend­ar­mut hat al­so ne­ben der finanziellen Sei­te, ein emotionales und soziales Ge­sicht. Eingeschränkte Sozialkontakte und feh­len­de verlässliche Beziehungen sind von au­ßen sel­ten er­kenn­bar. Die­se verdeckte Sei­te will die BAG KJS sichtbar und da­mit be­kämpf­bar ma­chen.

Die aktuelle Si­nus Jugendstudie greift die­ses Anliegen auf und macht Jugendarmut sichtbar. Sieben Pro­zent der 14-17Jährigen ge­hö­ren laut der Stu­die einer Lebenswelt an, die als pre­kär bezeichnet wird. Viele so­zi­al benachteiligte Ju­gend­li­che se­hen ih­re Zukunftschancen bei Null und haben sich da­mit ab­gefunden, nach der Schule keine Lehr­stel­le zu fin­den und letzt­end­lich in Hartz-IV zu lan­den. Der Start in ein selbständiges und selbst bestimmtes Leben ist für diese jun­gen Menschen schwie­rig, da sich bei ih­nen unterschiedlichste Problem- und Risikolagen bün­deln. Bedingt durch diese Per­spek­tiv­lo­sig­keit zei­gen sich oft deutliche Rückzugs- und Vereinsamungstendenzen. So ver­schwin­det Ju­gend­ar­mut aus der öffentlichen Wahr­neh­mung und wird un­sicht­bar.

Armutsrisiko

Wie kommt es ei­gent­lich in einem Wohl­fahrts­staat wie Deutsch­land zu Ar­mut? Das mö­gen sich viele fra­gen. Das Zusammentreffen verschiedener Ri­si­kolagen im El­tern­haus wirkt sich laut nationalem Bil­dungs­bericht 2012 auf die Ent­wick­lung der Kinder und Ju­gend­li­chen aus. Sind die Eltern er­werbs­los und verfügen nur über niedrige Bildungsabschlüsse und eingeschränkte finanzielle Res­sour­cen ist das Ri­si­ko arm zu sein hoch.

Darüber hinaus sind Ju­gend­li­che vor allem nach dem Erleben von Misserfolgen und Lebenskrisen von Aus­gren­zung bedroht. In der Schule den An­schluss zu verlieren, mehr­fach zu er­fah­ren, dass man ver­meint­li­ch für ei­ne Aus­bil­dung nicht ge­eig­net ist, sind äu­ßerst demotivierende Er­fah­rung­en. Jun­ge Men­schen wer­den so entmutigt und se­hen für sich kei­ne Per­spek­ti­ve.

Für die meisten jun­gen Menschen, die von Hartz IV le­ben, bedeutet die Sank­ti­o­nie­rung durch das Job­cen­ter ein Leben un­ter dem Exis­tenz­mi­ni­mum. Bei Verstößen ge­gen Auf­la­gen, au­ßer bei Mel­de­ver­säum­nis­sen, wer­den ih­nen die kompletten Be­zü­ge gestrichen. Die Konsequenz: Ju­gend­li­che die ei­gent­lich ei­ne verstärkte Un­ter­stüt­zung benötigen, wer­den in Re­si­gna­ti­on, Wohnungslosigkeit, Il­le­ga­li­tät und da­mit in das gesellschaftliche Abseits ge­drängt.

Selbstverschuldete Armut?

Wenn Jugendarmut wahrgenommen wird, dann meist als selbstverschuldetes Problem. In manchen TV Formaten wer­den junge Menschen re­gel­recht vorgeführt. Keinen Bock auf Schule, keinen Bock auf Aus­bil­dung bei den vielen frei­en Lehr­stel­len, dann ist man schon sel­ber schuld, oder?

Auf diese Art und Wei­se wird ein ge­sell­schaft­li­ches Problem zur vermeintlich individuellen Schuld. Nicht das Schul­sys­tem oder die fa­mi­li­ä­ren Be­din­gung­en des Aufwachsens wer­den kri­tisch begutachtet, son­dern aus­schließ­lich der junge Mensch selbst wird für sei­ne La­ge ver­ant­wort­lich gemacht. Über die­se Zu­schrei­bung von individuellen Defiziten und die Er­fah­rung der Ab­leh­nung entwickelt sich mehr und mehr die Ein­stel­lung, dass es auf einen sel­ber nicht mehr ankommt. Ar­mut verfestigt sich so auch schon im jun­gen Erwachsenenalter.

Deutlich wird dies auch bei der Be­trach­tung fehlender Bildungsabschlüsse. 1,44 Millionen Menschen zwi­schen 20 und 29 Jahren verfügen in Deutsch­land über keine abgeschlossene Be­rufs­aus­bil­dung. Das Armutsrisiko bei ungelernten Kräften liegt in Deutsch­land mit 16,8 Pro­zent deut­lich höher als bei qua­li­fi­zierten An­ge­stell­ten mit 2,0 Pro­zent.

Ausblick

Die In­iti­a­ti­ve Ju­gend(ar)mut der BAG KJS wirft den Blick auf die Le­bens­la­gen der von Ar­mut betroffenen jun­gen Menschen in Deutsch­land. Ziel ist es, öffentlichkeitswirksam auf Ausgrenzungsmechanismen in unserer Ge­sell­schaft auf­merk­sam zu ma­chen so­wie Veränderungen einzufordern und durch An­ge­bo­te der Ju­gendsozialarbeit in katholischer Trägerschaft junge Menschen An­er­ken­nung und Wür­de er­fahr­bar wer­den zu las­sen und ih­nen Teilhabeerfahrungen zu er­mög­li­chen.

Die In­iti­a­ti­ve bietet durch das The­ma Jugendarmut einen Gesamtzusammenhang für verschiedene He­raus­for­de­run­gen mit de­nen benachteiligte junge Menschen in ihrer jeweiligen Lebensphase kon­fron­tiert sind. Der ganzheitliche Blick auf die Le­bens­la­ge Jugendarmut, die ihren Ur­sprung zu­meist in einer ma­teriellen Un­ter­ver­sor­gung hat, aber in ihren sozialen und emotionalen Dimensionen weit da­rü­ber hin­ausgeht, er­mög­licht ein differenziertes Verständnis und die Wei­ter­ent­wick­lung von adäquaten An­ge­boten der Jugendsozialarbeit, die sich an den Bedürfnissen der jun­gen Menschen ori­en­tie­ren.

Die Materialien der In­iti­a­ti­ve sollen Impulse für die Aus­ei­nan­der­set­zung mit dem The­ma Jugendarmut ge­ben. Angesprochen wer­den so­wohl die Fachkräfte der Jugendsozialarbeit als auch kirchliche Grup­pie­rung­en so­wie ei­ne interessierte Öf­fent­lich­keit. Zentrales Anliegen ist es da­bei, aufzuzeigen, wo und wie ein Wan­del von Jugendarmut zu Jugendmut gelingt, da­mit den For­de­rung­en auch Änderungen fol­gen.

Ein wichtiger ers­ter Schritt besteht da­rin, zu sen­si­bi­li­sie­ren und Jugendarmut in die politische so­wie öffentliche Dis­kus­si­on einzubringen. An die Stel­le von individuellen Schuld­zu­wei­sung­en und Vorurteilen muss ei­ne fundierte Ana­ly­se des Problems und sei­ner Ursachen tre­ten. Nur dann, wenn strukturelle Hürden wie Finanzierungslücken überwunden und gleich­zei­tig An­er­ken­nung und Wert­schät­zung für jeden er­fahr­bar wer­den, kann es ge­lin­gen, Jugendarmut nach­hal­tig zu verhindern.

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