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Angebotsdarstellung

Good Practice

Veröffentlichung: 2008

Familienhebammen in Sachsen-Anhalt

Kurzbeschreibung mit Zielen und Maßnahmen

Kinder aus sozial benachteiligten Familien weisen laut verschiedenen Studien (zum Beispiel Armutsbericht Sachsen-Anhalt, Gutachten „Primäre Prävention zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen“ Rosenbrock 2004) mehr gesundheitliche Belastungen auf als Kinder aus höheren sozialen Schichten. Jedes sechste Kind ist von Einkommensarmut betroffen. Das hat auch gesundheitliche und soziale Folgen, wie zum Beispiel Defizite in der Motorik, bei der Sprachentwicklung, der Zahngesundheit und beim Ernährungsverhalten. Fehlende Bewältigungsressourcen der Eltern und mangelndes Wissen über Hilfesysteme können sich negativ auf das gesamte Familiensystem und somit auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Mit entsprechenden Interventionen sollte bereits während der Schwangerschaft begonnen werden, um die Gesundheitschancen von sozial benachteiligten Kindern zu erhöhen.

Das Projekt „Familienhebammen“ wendet sich an werdende Mütter und Väter, die sich in schwierigen sozialen Lagen wie Arbeitslosigkeit oder Armut befinden, alleinerziehend sind oder aus anderen Gründen Unterstützung benötigen. Das aufsuchende Angebot erleichtert den Zugang zu dieser Zielgruppe. Dabei werden Hebammen eingesetzt, die eine modularisierte, praxisreflektierende Weiterbildung absolviert haben und zum Tragen des Titels „Familienhebamme“ berechtigt sind. Sie leisten neben der eigentlichen Hebammenarbeit auch spezielle Betreuung und Beratung dieser Familien bis das Kind ein Jahr alt ist. Die Betreuung durch die Familienhebammen umfasst bis zu zehn Wochenstunden pro Familie. Durch die aktive Einbeziehung von Eltern und Kindern soll die eigene Kompetenz zur Förderung der Gesundheit gestärkt werden. Die Familienhebamme nimmt in ihrer Tätigkeit auch die Funktion einer Lotsin wahr, die je nach Bedarf mit anderen Akteuren in Kontakt tritt bzw. die Familie an diese verweist.


Kontakt

Frau Simone Seitz (Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt)
Turmschanzenstraße 25
39114 Magdeburg (Sachsen-Anhalt)

Telefon: 0391 / 567 6908

E-Mail: Simone.Seitz(at)ms.sachsen-anhalt.de

Website: www.hebammen-sachsen-anhalt.com


Weitere Ansprechperson

Frau Manuela Nitschke (Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt e.V.)
Goethestr. 37
06114 Halle (Sachsen-Anhalt)

Telefon: 0345 / 5125169

E-Mail: manuela.nitschke(at)web.de


Projektträger

Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt e.V.
Goethestraße 37
06114 Halle


Hintergrund

Die Stärkung der Familien ist nicht nur vor dem Hintergrund demografischer Entwicklungen oder den Ergebnissen der PISA-Studien notwendig. Familien sind für die Vermittlung und Aufrechterhaltung gesundheitsrelevanter Einstellungen und Verhaltensweisen verantwortlich. Dieses Potenzial der Lebenswelt Familie wird jedoch viel zu wenig genutzt und gefördert. Stattdessen tragen, wie auch der „Zweite Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ aus dem Jahr 2005 zeigt, vor allem junge Familien mit kleinen Kindern, alleinerziehende Mütter, Mehrkind- und Migrantenfamilien ein erhöhtes Armutsrisiko, das heißt sie sind in der Regel auch einem höheren gesundheitlichen Risiko ausgesetzt (Beikirch 2000). Die KIGGS-Studie, der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert-Koch-Instituts, belegt: Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status weisen nicht nur häufiger Defizite in ihren personalen, sozialen und familiären Ressourcen auf, sondern auch im Gesundheitsverhalten. Sie sind von Übergewicht und Adipositas besonders häufig betroffen. Dasselbe gilt für psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten. Sie treiben seltener Sport und rauchen häufiger als ihre Altersgenossen. Riskante Gesundheitsbiografien dieser Kinder und Jugendlichen sind absehbar. Von ihren Eltern vernachlässigte Kinder haben ein deutlich höheres Risiko, zu Problemkindern zu werden. Typische Folgen sind Schulabbruch, fehlende Ausbildungsmöglichkeiten, Jugendarbeitslosigkeit und damit ausbleibende soziale Integration in die Gesellschaft. Aber auch Jugendgewalt und Rechtsradikalismus gedeihen auf diesem Boden. Viele junge Mütter leben in verzweifelten sozialen und psychosozialen Verhältnissen mit der Folge der Kindesvernachlässigung. Hier kann und sollte Intervention erfolgen (Kesselheim 2000).

Die Bündnispartner in der Arbeitsgruppe Familie und Gesundheit des Landesbündnisses für Familien Sachsen-Anhalt initiierten Mitte 2005 als frühe Hilfe das Projekt „Familienhebammen in Sachsen-Anhalt“. Die positive Wahrnehmung der Hebamme in der Öffentlichkeit wird genutzt, um die Akzeptanz von Interventionen zu erhöhen und Versagensängste nicht aufkommen zu lassen. Ihre Empfehlungen, zum Beispiel Angebote des Jugendamts zu nutzen, finden so eher Beachtung.

Das Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt übernimmt seit 2006 die Finanzierung des Angebots ab der neunten Woche nach der Geburt. Pro geleistete Stunde können Honorarkosten in Höhe von 36 Euro (inklusive pauschalierte Fahrkosten) abgerechnet werden. Die Kosten vom ersten Kontakt in der Schwangerschaft bis zur achten Woche nach der Geburt werden durch die Krankenkassen gemäß Hebammengebührenordnung übernommen. Darüber hinaus können drei weitere Besuche einer Hebamme von der Krankenkasse bezahlt werden. Das Projekt ist zunächst bis 2009 befristet. Träger sind das Ministerium und der Landeshebammenverband. In den Städten Halle, Magdeburg, im Ohrekreis, im Altmarkkreis, im Mansfelder Land, in Stendal und in Weißenfels erklärten sich die ersten Hebammen bereit, eine zusätzliche Qualifikation zu absolvieren und für eine Betreuung von vulnerablen Familien bis zum Ende des ersten Lebensjahres des Kindes zur Verfügung zu stehen. Bis Ende 2009 sollen zwei Familienhebammen pro Landkreis bzw. kreisfreier Stadt im Einsatz sein.

Das Familienhebammenprojekt ist ein Baustein des Frühwarn- oder Frühfördersystems in Sachsen-Anhalt. Es versteht sich als Präventionsprogramm, das sich an werdende Eltern und Eltern mit Kleinkindern richtet, die gesundheitliche und psychosoziale Risikofaktoren aufweisen und geringe Ressourcen haben, diese auszugleichen. Zielgruppen sind junge Mütter und Väter,
- die ein Kind erwarten bzw. bekommen haben und unter 18 Jahre alt sind;
- die ihre Ausbildung noch nicht beendet haben oder nicht ausreichend unterstützt werden;
- die es schwierig finden, für ihr Kind zu sorgen, weil sie zu wenig Geld und/oder zu wenig Unterstützung haben, oder den Alltag nicht bewältigen;
- die ein schwieriges Baby haben, das zum Beispiel viel schreit und sich nur schwer beruhigen lässt;
- die alleinerziehend oder arbeitslos sind und keine ausreichende Unterstützung durch andere haben;
- die Probleme mit Alkohol haben oder illegale Drogen nehmen;
- die Erfahrungen mit Gewalt durch andere gemacht haben und Angst um ihr Kind haben;
- die Medikamente einnehmen müssen, da sie körperlich oder emotional erkrankt sind, und Hilfe bei der Versorgung ihres Kindes brauchen;
- die nicht in Deutschland geboren sind, noch nicht so gut Deutsch sprechen und sich nicht gut genug mit der Gesundheitsversorgung in Deutschland auskennen;
- die Konflikte miteinander haben, die sich auch auf die Versorgung des Kindes und sein Wohlergehen auswirken könnten.
Neben der Weiterbildung von Familienhebammen für alle Landkreise Sachsen-Anhalts werden mit dem Projekt folgende Ziele verfolgt:
- Förderung der Gesundheit von Mutter und Kind;
- gesundheitsbezogene Chancengleichheit für Schwangere und Mütter mit erhöhtem medizinischen und psychosozialen Risiko;
- Förderung der Inanspruchnahme von Präventionsmaßnahmen und der Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9;
- Stärkung und Mobilisierung von individuellen und sozialen Ressourcen sowie Hilfe zur Selbsthilfe;
- Verbesserung der kindlichen Gesundheit und Entwicklung;
- Unterstützung bzw. wenn nötig Vertretung der Interessen des Kindes als schwächstem Glied der Familie;
- Nachhaltigkeit durch eine kontinuierliche Betreuung, weitestgehende flächendeckende Versorgung und Netzwerkbildung mit Akteuren vor Ort bzw. in der Region;
- Schließen vorhandener Versorgungslücken.


Vorgehen

Das Projekt „Familienhebammen in Sachsen-Anhalt“ wurde vom Landesbündnis für Familien Sachsen-Anhalt im Jahr 2005 initiiert. In der Zeit zwischen Juni 2005 bis April 2006 wurden alle organisatorischen sowie verwaltungstechnischen Voraussetzungen für die Durchführung des Projekts geschaffen. Verantwortlich für die Projektdurchführung ist der Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt e.V.

In der Zwischenevaluation des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg wird beschrieben, dass sich bei 40 Prozent der Familien, die durch das Projekt erreicht wurden, zwischen einem und drei Risiko- bzw. Belastungsfaktoren, bei 44 Prozent vier bis sechs und bei 5 Prozent sieben bis elf Risiko- bzw. Belastungsfaktoren zeigen. Rund 80 Prozent aller Familien haben extreme Probleme, zum Beispiel eine eingeschränkte Fähigkeit in der Alltagsbewältigung, Anzeichen für Überforderung oder Hilflosigkeit, Hinweise auf Vernachlässigung bei der Versorgung des Säuglings oder ein schwieriges Kind bzw. „Schreibaby“).

Gut 64 Prozent der Frauen sind unter 25 Jahre alt, 66 Prozent haben entweder (noch) keinen Schulabschluss oder einen Sonder- bzw. Hauptschulabschluss und 32 Prozent leben ohne Partner. 72 Prozent der Frauen sind arbeitslos. Der Gesundheitszustand ist nur bei 8 Prozent schlecht. 42 Prozent von 119 Klientinnen erwarten ihr erstes Kind, weitere 47 Prozent haben zwei bis sieben Kinder (Ayerle & Sadowski 2007).

Da die Arbeit mit Familien in Risikokonstellationen nicht zur Ausbildung einer staatlich examinierten Hebamme gehört, ist eine Zusatzqualifikation notwendig, die durch eine Weiterbildung erworben wird. Diese setzt sich aus 8 theoretischen und praxisreflektierenden Modulen von jeweils 3 Tagen zusammen, wobei das 8. Modul nur 2 Tage umfasst und die Abschlussprüfung beinhaltet. Die Module beginnen immer im Februar und enden im November des jeweiligen Jahres. Die Monate Juli und September sind dabei modulfreie Zeit. Nach Absolvierung des 3. Moduls nehmen die Hebammen bereits ihre Arbeit in und mit den entsprechenden Familien auf. Parallel dazu werden die restlichen Weiterbildungsmodule absolviert. Insgesamt umfasst die Weiterbildung 162 Präsenzstunden plus 100 Stunden Eigenarbeit und Prüfung. Themen: Adoptionsgesetz, Hygienegesetz, Grundlagen des Gesundheitswesens, Hebammenberufs- und Gebührenverordnung, Psychologische Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes, gewaltbereite Väter, Asylrecht, Sorgerecht, Pflegschaftsrecht, Familienrecht, Migranten Teenagerschwangerschaften, Sucht, Kindeswohlgefährtdung, Datenschutz, Verhütung, Kindestot, Verlust, Trauerbegleitung, Casemangement, Falldarstellungen, Organisatorisches, Netzwerkaufbau etc. Das Curriculum ist an ein Curriculum angelehnt, welches vom Bund Deutscher Hebammen entwickelt worden ist. Die Weiterbildungsmodule finden jeweils in Magdeburg und Halle statt.

Interessierte Hebammen, die sich zur Familienhebamme ausbilden lassen wollen, bewerben sich beim Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt. Dort werden sie in Zusammenarbeit mit dem Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt e.V. nach bestimmten Kriterien ausgewählt. Folgende Grundvoraussetzungen sind für die Tätigkeit einer Familienhebamme notwendig:
- Eine abgeschlossene Ausbildung zur staatlich examinierten Hebamme;
- Eine mindestens dreijährige Tätigkeit als Hebamme;
- Mitgliedschaft im Landeshebammenverband Sachsen-Anhalt;
- Freiberufliche Tätigkeit;
- Die Bereitschaft mindestens ein Jahr im Projekt tätig zu sein;
- Die Bereitschaft zur Teilnahme an wiederkehrenden Supervisionen;
- Gutes Einfühlungsvermögen;
- Soziales Engagement.

Im April 2006 begannen die ersten zehn Hebammen mit ihrer Zusatzqualifikation zur Familienhebamme. Sie versuchen, schwangere Frauen bzw. Familien, die eine Geburt erwarten und ein Risikopotenzial aufweisen, möglichst noch während der Schwangerschaft, spätestens jedoch nach der Geburt des Kindes zu erreichen. Bei medizinischen und sozialen Problemen werden die Familien während der Schwangerschaft bzw. im ersten Lebensjahr des Kindes intensiv betreut. Die Familienhebammen fördern die Inanspruchnahme von Untersuchungen zur Schwangerenvorsorge und Früherkennung bei den Kindern, insbesondere bei medizinischen und sozialen Risikogruppen. Sie wirken auf das Verhalten der Frauen bzw. Eltern positiv ein, indem sie zum Beispiel auf die Schädlichkeit von Alkohol- und Tabakkonsum hinweisen und dabei unterstützen, ärztliche Ratschläge zu befolgen. Dabei arbeiten sie eng mit allen an der Versorgung beteiligten sozialen und medizinischen Institutionen zusammen.

Die Familien werden von Hebammen, Arztpraxen, Beratungszentren, Jugendamt, Bewährungshilfe und anderen Akteuren aus dem Gesundheits- und Sozialbereich, die interdisziplinär vernetzt sind an die Familienhebammen weitervermittelt. Dies kann während der Schwangerschaft, nach der Geburt, nach dem Wochenbett oder im Laufe des ersten Lebensjahres des Kindes erfolgen.

Die Betreuung der Familien findet in der Regel im vertrauten häuslichen Bereich statt. Laut Zwischenevaluation wurden im Zeitraum Juni 2006 bis März 2007 knapp 150 Familien durch zehn Familienhebammen begleitet.

Pro Frau bzw. Familie entfielen im Durchschnitt 8,3 Leistungen auf die Begleitung in der Schwangerschaft sowie 48,5 Leistungen auf die gesundheitliche Versorgung und 21,4 Leistungen auf die psychosoziale-funktionelle Unterstützung im ersten Lebensjahr des Kindes.

Die Zusammenarbeit mit Akteuren aus dem Gesundheits- und Sozialwesen umfasste in der Begleitung von Schwangeren und Müttern in den Jahren 2006 und 2007 im Durchschnitt 3,9 Leistungen pro Familie (z.B. Familienberatung, Ernährungsberatung, Schulnerberatung usw.) (Ayerle und Sadowski 2007).

Aufklärung, Vermittlung und Begleitung zu weiterführenden Diensten wie Jugendamt, Erziehungsberatungsstellen, Sozialamt, Schwangerschafts-beratungsstellen, Arzt- und psychologische Praxen sollen eine optimale Unterstützung der Familien und Kinder sicherstellen. Die Familienhebammen arbeiten deshalb eng mit allen in Frage kommenden Institutionen und medizinischen Diensten sowie karitativen Einrichtungen zusammen.


Good Practice in

Empowerment

Die Projektstrategie besteht darin, Hebammen zur Begleitung von Familien mit Risikopotenzial bis zum ersten Geburtstag des Kindes einzusetzen. Sie wird durch die Maßnahme umgesetzt, die Hebammen zusätzlich zu qualifizieren, ihnen Wissen zu vermitteln und ihre Kompetenzen im Umgang mit den Familien zu trainieren. Strategie und Maßnahme sind besonders geeignet, das Maß an Selbstbestimmung und Autonomie im Leben der beteiligten Mütter und Väter zu erhöhen. Diese werden in die Lage versetzt, die oft verschütteten individuellen Stärken, Fähigkeiten und Möglichkeiten aufzudecken und zu fördern. Die Eltern werden qualifiziert, sich selbständig um ihr Kind kümmern zu können. Folgende Beratungsthemen werden abgedeckt:
- Geburtsvorbereitung;
- Prävention des plötzlichen Säuglingstods;
- Wahrnehmung der Bedürfnisse des Babys;
- Gesunde Verhaltensweisen in der Schwangerschaft;
- Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen;
- Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung.

Bei der Begleitung wird darauf geachtet, dass die Zielgruppe sich nicht bevormundet bzw. unwissend fühlt, und die Hebammen den Betroffenen mit einer positiven, respektvollen und integrativen Haltung gegenüber treten.

Aus Sicht der Familienhebammen versorgten 73 Prozent der Frauen ihr Kind gut, 16 Prozent mittelmäßig und 11 Prozent schlecht. Die Mutter-Kind-Beziehung konnte bei etwas mehr als der Hälfte als gut bewertet werden. Bei 15 Prozent stuften die Familienhebammen sie als mittelmäßig und bei einem Drittel als schlecht ein.

Werden die Kompetenzen der Frauen in Bezug auf sich selbst, ihre Familie und ihre Bewältigungsstrategien differenziert, zeigt die Einschätzung der Familienhebammen bei etwa je einem Viertel der Frauen ein geringes Bewusstsein für die eigene Gesundheit und einen geringen Beitrag zum Familienleben. Jedoch liegen bei wesentlich mehr Frauen geringe Kompetenzen in Bewältigungsstrategien vor: Jeweils 42 Prozent der Frauen werden von den Familienhebammen als wenig kompetent eingeschätzt, öffentliche Hilfeleistungen oder soziale Unterstützung in Anspruch zu nehmen bzw. sich selbst zu helfen (47 Prozent) (Ayerle & Sadowski 2007).

Durch die langfristige Familienbegleitung wird Vertrauen in begleitende Hilfen aufgebaut und gestärkt. Dadurch wird auch der Weg zur Inanspruchnahme weiterer professioneller Hilfen externer Beraterinnen und Berater unterstützt.

Niedrigschwellige Arbeitsweise

Um Familien zu einer Teilnahme am Angebot zu motivieren und besonders sozial benachteiligte Familien zu erreichen, werden die für diese Zielgruppe bekannten Barrieren, wie zum Beispiel schwierige und langwierige Anmeldewege, das Aufsuchen eines bestimmten Ortes (Arztpraxis oder Beratungsstelle), die Übernahme von Kosten bei der Nutzung des Angebots usw., vermieden. Die wichtigsten Merkmale, dieser Zielgruppe den Zugang zu ermöglichen, sind:
- Vermittlung potenzieller Familien durch Hebammen-Kolleginnen, Beratungsstellen etc.;
- Aufsuchende Kontaktaufnahme der Familienhebamme und persönliche Hausbesuche bei den Zielfamilien;
- Kontinuierliche Betreuung durch eine Familienhebamme als feste Bezugsperson und Lotsin bis zum ersten Geburtstag des Kindes;
- Freiwilligkeit des Angebots;
- Eingehen auf individuelle Bedürfnisse und Fragestellungen;
- Gemeinsame Festlegung von Zeitpunkt, Umfang, inhaltlichen Schwerpunkten, Art und Dauer der Betreuung mit den Zielfamilien;
- Aufbau von Kooperationen und Netzwerken mit anderen Einrichtungen (Jugendamt, Erziehungsberatungsstellen, Schwangerschaftsberatungsstel-len, psychologische und Arztpraxen, Sozialamt);
- keine Anmeldeformalitäten, Wahrung der Anonymität;
- Kostenlosigkeit des Angebots für die Nutzerinnen und Nutzer.

Der Kontakt zu den Familienhebammen erfolgte bei 30,6 Prozent der Frauen (n=144) durch sie selbst und bei weiteren 30,6 Prozent durch eine Behörde, wie zum Beispiel das Jugendamt. In 15,3 Prozent der Familien wurde der Kontakt durch eine andere Hebamme hergestellt, in 10,4 Prozent durch ein Krankenhaus und in 8,3 Prozent durch eine Ärztin oder einen Arzt. Weitere Kontaktaufnahmen erfolgten durch eine Beratungsstelle, eine Sozialarbeiterin oder einen Sozialarbeiter, Familienangehörige oder sonstige Personen. Die Betreuung wurde zu 31 Prozent während der Schwangerschaft initiiert (n=129). In der zweiten Woche nach der Geburt kamen weitere 46,5 Prozent der Frauen zum Projekt, 22,5 Prozent kamen im vierten Monat nach der Geburt dazu (Ayerle & Sadowski 2007).

Die Unterstützungsleistungen durch die Familienhebamme werden durch die Frauen mehrheitlich positiv bewertet. Zu Beginn der Begleitung (erste Erhebung) schätzen etwa neun von zehn Klientinnen ihre emotionale Unterstützung, ihren Rat und die Unterstützung der mütterlichen Beziehung zum Kind als groß ein.

Bei der Lösung von Problemen durch Einbeziehung externer Hilfen wird die Wirkung anders eingeschätzt: Eine große Unterstützung geben 63 Prozent der Frauen an, eine mittlere 24 Prozent und eine geringe 14 Prozent der Frauen. Hier spielen wahrscheinlich die mehrfachen Belastungen der Familien eine Rolle, die eine schnelle und effektive Hilfe nur bedingt möglich machen (Ayerle & Sadowski 2007).

Nachhaltigkeit

Das Projekt wurde 2005 begonnen und ist zunächst bis 2009 geplant. Das Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt übernimmt bis dahin die Qualifikation und Tätigkeitsvergütung von insgesamt 28 Familienhebammen, zwei pro Stadt bzw. Landkreis. Zur langfristigen Sicherung dieser Leistung über das Jahr 2009 hinaus verhandelt das Ministerium derzeit mit den Krankenkassen über eine Finanzierungsbeteiligung.

Von großer Bedeutung ist auch, dass die Hebammen die Familien nicht nur in Fragen, die den Umgang mit dem Baby betreffen beraten, sondern auch über mögliche finanzielle Hilfen Auskunft geben können oder sie in die Arzt- oder Kinderarztpraxis begleiten. Sie versuchen so, innerhalb der Familie einen geregelten und sicheren Alltag zu schaffen. Das Begleiten und „Üben“ des Lebens, eines geregelten Alltags mit einem Kind bzw. Kindern, ist eine Kompetenz, die der Klientel auch nach Auslaufen der Unterstützung erhalten bleibt. Das gleiche gilt für die Fähigkeit, kritische Situationen im Familienalltag wahrzunehmen und sich rechtzeitig Hilfe zu suchen.

Die eingesetzten Familienhebammen arbeiten freiberuflich. Sie werden in dieser Unabhängigkeit wahrgenommen und unterstützen mithilfe dieses Vertrauensbonus, Berührungsängste mit Jugendämtern und anderen Behörden abzubauen.

Mit der Zeit fragen Familien nicht nur Sachverhalte nach, die mit dem Baby zu tun haben, sondern wenden sich auch mit alltäglichen Dingen an die Hebammen. So drehen sich die Gespräche nicht selten um die Themen Ernährung, Bewegung, Gesundheitsvorsorge usw. Familienhebammen berichteten, dass besonders Frauen bereits nach kurzer Zeit als „Gesundheitsexpertin“ in ihren Familien agieren und das erworbene Wissen im Freundeskreis oder innerhalb der Familie weitergeben. Das bedeutet, dass auch das Umfeld der Familie von den Besuchen der Familienhebamme profitiert.

Die starke Orientierung der Familienhebammen auf das Sammeln von positiven Erfahrungen innerhalb der Familien erhöht die Wahrscheinlichkeit einer nachhaltigen Wirkung. Aussagen von bereits betreuten Familien belegen diese Vermutung. In zahlreichen Familien hat die Frau diese Funktion der „Wissensvermittlerin“ auch nach Beendigung der offiziellen Betreuungszeit beibehalten und wird als „Expertin“ von ihrer Familie und ihren Freunden weiterhin genutzt.

Durch die Einbeziehung verschiedener Institutionen in die Projektarbeit (Jugendamt, Sozialamt usw.) baut sich nach und nach ein Netzwerk auf, das zum einen von den Familienhebammen auch für ihre klassische Hebammenarbeit genutzt wird, zum anderen dazu beiträgt, schnell und risikominimierend vor allem in Problemsituationen tätig zu werden und betroffenen Familien zu helfen.

Die Erfahrungen und Erkenntnisse der Hebammen mit sozial benachteiligten Familien können langfristig auch für andere Arbeitsansätze genutzt werden.

Eine Nachhaltigkeit ist für die Initiatoren und den Projektträger dann erreicht, wenn
- bei der Zielgruppe eine höhere Inanspruchnahme der U1- bis U9- Untersuchungen feststellbar ist;
- weniger Krankenhausaufenthalte auf Grund von Fehlernährungen bei Kleinstkindern festgestellt werden;
- sich eine Verbesserung der finanziellen Situation der Zielgruppe eingestellt hat, etwa durch Inanspruchnahme von Institutionen, die finanzielle Unterstützung leisten können (beispielsweise die Stiftung „Familie in Not“);
- bei Migrantenfamilien Sprachbarrieren abgebaut werden;
- sich der übermäßige Konsum von Tabak oder Alkohol verringert.

Fazit:
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Belastungen von sozial benachteiligten Familien sind die entscheidenden Fragen, ob und wie die Leistungen der Familienhebammen zur Verbesserung der Lebenssituation beitragen und was Familienhebammen mit ihrer Arbeit für die Zielgruppe an positiven Veränderungen letztendlich bewirken.

Die Zwischenevaluation hat gezeigt, dass die Zielgruppe mit diesem Ansatz tatsächlich erreicht wird. Von den derzeit 180 betreuten Familien verfügen ca. 40 Prozent über ein sehr niedriges Einkommen. 15 Prozent gaben an, über gar kein eigenes Einkommen zu verfügen. Weitere 15 Prozent sind mit Suchtproblemen belastet. 5 Prozent haben einen Migrationshintergrund. 15 Prozent der erreichten Frauen sind minderjährig und haben keinen Schulabschluss (Ayerle & Sadowski 2007).


Literatur

Beikirch. K.: Notruf aus dem Kinderzimmer - Familienhelfer für die Krise Reportage 2000

Kesselheim. H.: Soziale Absicherung im Alter, Vortrag 2000

Lebenslagen in Deutschland - Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2005

Robert-Koch-Institut: KIGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Berlin 2007

Rosenbrock. R.: Gutachten. Primäre Prävention zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen, Berlin 2004

Ayerle, Sadowski: Evaluationsbericht „FrühStart“ – Professionell gesteuerte Frühwarnsysteme für Kinder und Familien in Sachsen-Anhalt“, Halle- Wittenberg 2007


Laufzeit des Angebotes

Beginn: März 2006

Abschluss: kein Ende geplant


Welche Personengruppe(n) in schwieriger sozialer Lage wollen Sie mit Ihrem Angebot erreichen?

  • Personen mit niedrigem beruflichen Status (z.B. ungelernte Arbeiter/-innen)
  • Personen mit sehr niedrigem Einkommen (z.B. Personen im Niedriglohnsektor, Personen mit niedrigen Rentenbezügen)
  • Personen mit niedriger Schulbildung (z.B. Personen ohne qualifizierten Schulabschluss)
  • Schwangere in schwieriger sozialer Lage

Das Angebot richtet sich insbesondere an folgende Altersgruppen

  • Unter 1 Jahr
  • 18 bis 29 Jahre
  • 30 bis 49 Jahre

Das Angebot umfasst geschlechtsspezifische Angebote für

  • Jungen / Männer
  • Mädchen / Frauen

Schwerpunkte des Angebotes

  • Ernährung
  • Stressbewältigung

Das Angebot wird hauptsächlich in folgenden Lebenswelten umgesetzt

  • Kinder- und Jugendheim / betreute Wohngruppen

Qualitätsentwicklung

Wie dokumentieren Sie Ihre Arbeit? (z.B. Konzepte, Handreichung)

Es liegt keine Dokumentation vor.


Stand

08.07.2013

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